"Nicht alle Ukrainer wollen an der Front kämpfen"

Margot Käßmann
Julian Stratenschulte/dpa
Margot Käßmann begründet ihre pazifistische Haltung zum Ukraine-Krieg mit ihrem christlichen Glauben.
Käßmann zu Jahrestag
"Nicht alle Ukrainer wollen an der Front kämpfen"
Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) blickt die frühere hannoversche Landesbischöfin und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, auf die letzten zwei Kriegsjahre zurück, kritisiert die mediale Debatte und nimmt Stellung zu umstrittenen Allianzen der Friedensbewegung.

epd: Frau Käßmann, ein Sieg der Ukraine gegen Russland scheint in immer größere Ferne zu rücken. Müssten wir die Ukrainer in ihrem Abwehrkampf nicht stärker unterstützen?

Margot Käßmann: Ich halte daran fest, dass das sinnlose Sterben der Zivilisten und der Soldaten so schnell wie möglich enden muss. Die Toten auf beiden Seiten gehen in die Zehntausende. Bis Februar 2022 galt in Deutschland der Konsens, dass wir keine Waffen in Krisen und Kriegsgebiete liefern. Dass wir diesen Grundsatz über den Haufen geworfen haben, halte ich für falsch.

Was wäre die Alternative gewesen?

Käßmann: Deutschland hätte sich zur großen Diplomatie aufschwingen und eine entscheidende Vermittlerrolle zwischen Russland und der Ukraine spielen können. Stattdessen sind wir der zweitgrößte Waffenlieferant. Warum eigentlich? Dem Wort unserer Außenministerin, wonach Waffen Menschenleben retten, widerspreche ich. Waffen töten. Von dieser brutalen Realität des Krieges, der Verzweiflung und dem Grauen in den Schützengräben, davon bekommen wir viel zu wenig mit. Wir haben uns an den Krieg gewöhnt, auch medial.

Eine Verhandlungslösung würde nach jetzigem Stand der Dinge bedeuten, dass sich Russland große Teile der Ukraine einverleibt. Ist das der Ukraine zuzumuten?

Käßmann: Ich halte es für falsch, Menschenleben für Territorium zu opfern. Wie absurd das ist, davon hat mich ein Besuch im Knochenhaus von Douaumont bei Verdun einmal mehr überzeugt. Dort liegen die Gebeine von 130.000 Soldaten, von denen man nicht mehr weiß, ob sie deutsch oder französisch waren. Da frage ich mich: War es das wert? Für ein paar Quadratkilometer Land? Dass Wladimir Putin ein menschenverachtender Aggressor ist, ist keine Frage. Und doch habe ich große Zweifel, wenn mir gesagt wird, dass meine Freiheit in der Ukraine verteidigt wird - wie schon vor vierzehn Jahren, als man mir weismachen wollte, dass meine Freiheit am Hindukusch verteidigt wird. In einem Europa der Regionen würde die nationale Zugehörigkeit einer Region eine viel zu geringe Rolle spielen, als dass dafür Tausende sterben müssten.

Untergraben Sie mit Ihrer Haltung nicht die Kampfmoral der Ukrainer?

"Über die Friedensbewegung habe ich Kontakt zu Ukrainern, die all die Kriegsrhetorik auch kritisch sehen und den Dienst an der Waffe verweigern. Das Recht dazu wird ihnen aber nicht zugestanden."

Käßmann: Das gehört zur neuen Rhetorik: "Kampfmoral untergraben"! Ich kann nur als Deutsche sprechen. Über die Friedensbewegung habe ich Kontakt zu Ukrainern, die all die Kriegsrhetorik auch kritisch sehen und den Dienst an der Waffe verweigern. Das Recht dazu wird ihnen aber nicht zugestanden. Dabei ist Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht. Wenn wir von europäischen Werten sprechen und der Ukraine den EU-Beitrittsverhandlungen in Aussicht stellen, dann muss klar sein, dass dieses Recht auch in der Ukraine gelten muss. Mehr als 900.000 ukrainische junge Männer haben inzwischen im europäischen Ausland Zuflucht gefunden. Allein in Deutschland sollen es fast 200.000 sein. Die Behauptung, dass alle Ukrainer unbedingt an der Front kämpfen wollen, ist daher haltlos.

Viele Militärstrategen sagen, dass der Westen gegenüber Russland militärische Stärke demonstrieren muss, weil Putin sonst in Nato-Länder einmarschieren könnte.

Käßmann: Das halte ich für eine Drohkulisse, die uns "kriegstüchtig" machen soll. Überhaupt irritiert mich, dass im deutschen Diskurs fast nur noch Militärexperten zu Wort kommen. Wir bilden doch in Deutschland auch zuhauf Diplomatie-Experten aus. Wenn ich die medialen Debatten verfolge, frage ich mich: Wo sind die eigentlich?

Sollen denn die weltweiten Investitionen in Aufrüstung weiter steigen? Soll sich die Eskalationsspirale immer weiterdrehen? Das ist nicht die Zukunft, die ich mir für die Kinder dieser Welt wünsche. Auch wenn ich auf die anderen Krisenherde blicke, die Straße von Taiwan oder die Straße von Hormus oder die Eskalation im Nahen Osten, dann ist für mich klar, dass nur Abrüstung und nicht Aufrüstung zukunftsverheißend ist. Ich habe deshalb schon 1981 im Bonner Hofgarten gegen die Nato-Aufrüstung demonstriert.

In den letzten zwei Jahren wurden Sie von Politikern scharf kritisiert. Wie sieht es in der evangelischen Kirche aus?

"Das Gebot der Feindesliebe können Sie nicht einfach aus dem Neuen Testament streichen, weil es Ihnen nicht passt, weil es so provokant ist."

Käßmann: Meine pazifistische Haltung begründe ich mit meinem christlichen Glauben. Das Gebot der Feindesliebe können Sie nicht einfach aus dem Neuen Testament streichen, weil es Ihnen nicht passt, weil es so provokant ist. Damit stehe ich in der Kirche nicht allein da, auch wenn die Mehrheit eine andere Haltung hat. Viele Verbindungen der christlichen Friedensbewegung tragen noch heute, auch solche, die wir damals in die DDR geknüpft haben. Die Friedensbewegung insgesamt lebt, auch wenn wir nicht mehr Massen auf die Straßen bringen wie zum Beispiel noch vor zwanzig Jahren beim Irak-Krieg.
Ich respektiere es selbstverständlich, wenn jemand einen anderen Standpunkt vertritt. Schon Luther hat gesagt, dass ein Soldat christlichen Standes sein kann. Ich akzeptiere es auch, wenn jemand aus christlichen Überlegungen heraus die Auffassung vertritt, dass wir der Ukraine Waffen liefern müssen. Diese Vielfalt von Positionen müssen wir in der Kirche aushalten. Wichtig ist für mich nur, dass Christinnen und Christen ihre Haltung zu solchen Fragen am eigenen Gewissen prüfen. Mich hat immer irritiert, dass das Gewissen von Kriegsdienstverweigerern geprüft wurde, aber nicht das Gewissen von denen, die Kriegsdienst leisten.

Umstrittene Politiker wie Sahra Wagenknecht oder von der AfD sprechen sich ebenfalls gegen Waffenlieferungen aus. Haben Sie manchmal Sorge, politisch missbraucht zu werden?

Käßmann: Ich bin ein unabhängiger Mensch und lasse mich nicht vereinnahmen. Das "Manifest für Frieden" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer würde ich wieder unterschreiben. Fast die Hälfte der Deutschen ist gegen Waffenlieferungen. Mit meiner Unterschrift wollte ich dazu beitragen, dass dies medial mehr abgebildet wird. Bei der Kritik am Manifest muss man schon sehr viel hineininterpretieren, um zu dem Schluss zu kommen, der Text distanziere sich nicht ausreichend von Russland.

"Fast die Hälfte der Deutschen ist gegen Waffenlieferungen. Den Vorwurf, die Friedensbewegung sei irgendwie AfD-nah, weise ich zurück."

Die AfD gibt vor, eine Friedenspartei zu sein, aber das nehme ich ihr nicht ab, eben weil sie ständig Unfrieden sät. Den Vorwurf, die Friedensbewegung sei irgendwie AfD-nah, weise ich zurück. Die AfD kann nicht Teil der Friedensbewegung sein, denn sie ist rassistisch und nationalistisch. Mit einer solchen Haltung entsteht kein Frieden.

Realistisch gesehen wird in der Ukraine nicht so bald Frieden einkehren. Auch in unserer Gesellschaft tun sich Gräben auf. Was kann uns in dieser Lage Trost geben?

Käßmann: Ich halte daran fest, dass Menschen in Frieden miteinander leben können. Wenn wir diese Hoffnung aufgeben, dann wäre die Welt tatsächlich ein trostloser Ort. Dabei können wir Kraft schöpfen aus den Hoffnungsbildern der Bibel. "Gerechtigkeit und Friede werden sich küssen", steht in den Psalmen. Und beim Propheten Micha steht: "Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen." Darauf hoffe ich.

Zum zweiten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine rufen Friedensinitiativen für heute (Freitag) zu Protesten gegen den Krieg auf. In Berlin ist am Abend ein Mahngang geplant. Er soll vom Brandenburger Tor zur russischen Botschaft Unter den Linden führen. An dem Umzug will auch die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann teilnehmen.