TV-Tipp: "Tatort: Geisterfahrt"

Getty Images/iStockphoto/vicnt
11. Februar, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Geisterfahrt"
Sonntag ist Krimi, Mittwoch ist Drama; jedenfalls im "Ersten". Das Publikum der Mittwochsfilme ist jedoch deutlich überschaubarer, weshalb die Fernsehfilmredaktionen der ARD auf Dramendrehbücher in der Vergangenheit schon mal mit der Frage reagiert haben, ob sich die Handlung nicht als Krimi erzählen ließe. Auch "Geisterfahrt", ein "Tatort" aus Göttingen, wirkt zunächst, als sei die Geschichte als Drama über die Ausbeutung von Paketdienstangestellten gedacht gewesen: Ein junger Paketfahrer rast mit seinem Transporter in eine Menschenmenge. 

Regisseurin Christine Hartmann, die sich einer Drehbuchvorlage von Stefan Dähnert angenommen hat, lässt ihren Film mit markanten Szenen im Logistikzentrum beginnen; das Thema ist also früh gesetzt. Der Bote bringt eine Lieferung ins Polizeipräsidium, erntet jedoch bloß Undank, weil das Expresspaket beinahe zu spät gekommen wäre. Es enthält eine Überraschung für Polizeidirektor Liebig (Luc Veit); der Chef von Charlotte Lindholm und Anaïs Schmitz (Maria Furtwängler, Florence Kasumba) wird sechzig. Dass er in seiner Ansprache eigens seine Liebe zur gerührten Gattin (Bibiana Beglau) erwähnt, wird selbstredend noch seine Bewandnis haben. Zunächst löst der Bote jedoch eine Tragödie aus. Das Bild wird schwarz, aus dem Off ertönen typische Unfallgeräusche, ein Mensch stirbt, andere kommen schwerverletzt ins Krankenhaus, und die Polizei fragt sich, was hier passiert ist. War es eine Amokfahrt oder ein terroristischer Anschlag? Hat der Fahrer einfach seiner Wut freien Lauf gelassen? Bremsspuren gibt es jedenfalls nicht.

Der junge Mann, der nicht mehr aus dem Koma erwachen wird, heißt Ilie, er ist Rumäne; ein islamistischer Hintergrund kommt kaum in frage. Weil die beiden Kommissarinnen keinen Ermittlungsansatz haben, arbeitet sich "Charité"-Regisseurin Hartmann, die zuletzt einen sehenswerten Faschings-"Tatort" aus München gedreht hat ("Kehraus", 2022), erst mal an den Bedingungen im Niedriglohnsektor ab: Die Paketfahrer sind Sub-Sub-Unternehmer eines fiktiven Paketdienstes und in völliger Eigenverantwortung tätig. Wenn die Details des vermutlich sorgsam recherchierten Drehbuchs stimmen, sind die Missstände in der Tat empörend. In "Geisterfahrt" führen die Lieferanten ein prekäres Dasein, leben zum Teil in ihren Transportern, stehen unter ständigem Stress, nehmen Aufputschmittel und haben nicht mal Zeit für Pinkelpausen. Ihre Fahrtenschreiber, heißt es, seien "Märchenschreiber", tatsächlichen Aufschluss über die geleistete Arbeit geben allein die Paketscanner; Ilies Gerät ist verschwunden. 

Das alles ist ausgesprochen interessant, wenn auch als Sujet nicht neu. Mit dieser Arbeit im Hamsterrad hat sich schon das ARD-Drama "Geliefert" (2021) mit Bjarne Mädel befasst, und in der Episode "Tödliche Lieferung" (2023) aus der ZDF-Reihe "Das Quartett" hat das Team nach der Ermordung eines Paketboten im Logistikzentrum eines Online-Riesen ermittelt. "Geisterfahrt" wird jedoch erst zum Krimi, als Liebig den Fall ans Verkehrsdezernat übergibt. Lindholm wäre nicht Lindholm, wenn sie sich nun nicht erst recht in die Sache verbeißen würde, und plötzlich geht es um ein Verbrechen ganz anderer Art. Der letzte Akt macht vieles wieder wett, was vorher ein wenig ins Leere lief, weil es den Beteiligten offenbar nicht in erster Linie darum ging, einen möglichst fesselnden Krimi zu erzählen.

Wenig ersprießlich ist auch die unnötig komplizierte zwischenmenschliche Ebene. Innige Freundinnen, das war schon beim ersten gemeinsamen Fall ("Das verschwundene Kind", 2019) klar, würden Lindholm und Schmitz vermutlich nie, schließlich hat die impulsive einheimische Kommissarin ihre aus Hannover nach Göttingen strafversetzte Kollegin damals mit einer Ohrfeige begrüßt. Gemessen daran hat sie sich diesmal erstaunlich gut im Griff, als sie erfährt, dass Lindholm eine Nacht mit ihrem Gatten, dem Rechtsmediziner Nick Schmitz (Daniel Donskoy), verbracht hat. Viel spannender ist jedoch eine ganz andere Beziehung: Mit dem beklemmend authentisch umgesetzten Thema häusliche Gewalt findet der Film zu seiner eigentlichen Bestimmung; die entsprechenden Rückblenden sind nur schwer auszuhalten. Der erläuternde Vortrag einer Psychologin ist zwar etwas ungelenk umgesetzt, aber die Feindseligkeit zwischen den beiden Ermittlerinnen – Schmitz attestiert der Kollegin Wahnvorstellungen – bekommt endlich eine nachvollziehbare Basis. "Geisterfahrt" ist der letzte "Tatort" aus Göttingen, Charlotte Lindholm wird wieder nach Hannover zurückkehren. Das Duo Lindholm/Schmitz ist nach sechs gemeinsamen Fällen Geschichte.