Missbrauchsbeauftragte fordert mehr Verbindlichkeit

Kerstin Claus
© epd-bild/Hans Scherhaufer
Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundsregierung, am 09.08.2022 in Berlin. Seit April 2022 ist sie Unabhaengige Beauftragte fuer Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Anerkennung des Leids Betroffener
Missbrauchsbeauftragte fordert mehr Verbindlichkeit
Die Unabhängige Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus fordert von der evangelischen Kirche Transparenz und Verbindlichkeit bei den Anerkennungszahlungen für Missbrauchsopfer. Es brauche für alle 20 Landeskirchen verbindliche Regeln, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag).

Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus: "Ich finde es sehr gut, dass die hessische Landeskirche einen Sockelbetrag von 20.000 Euro für Betroffene von Missbrauch festgelegt hat, vielerorts sind es nur 5.000 Euro."

Zudem sollten Kosten für Therapieplätze und für Unterstützungs- und Hilfeangebote übernommen werden, sagte Claus. Sie plädierte ferner für "unabhängige Meldestellen und Ombudsstellen, damit Betroffene sich melden und auch miteinander in Verbindung treten können". Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes Forscherteam hatte am 25. Januar eine Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie vorgestellt. Demnach gab es von 1946 bis 2020 mindestens 2.225 Betroffene.

Im Kampf gegen Kindesmissbrauch befürwortet Claus eine anlasslose Speicherung von Kommunikationsdaten durch die Anbieter. "Unternehmen sollten Telekommunikationsdaten gesetzlich verpflichtend einige wenige Wochen lang speichern können", sagte die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs den Funke-Zeitungen. "Das hilft Ermittlern ungemein, wenn sie einem Täter auf der Spur sind." Die Speicherung von Daten helfe auch, bisher unerkannte aktuelle Fälle aufzudecken.

Es gehe um die Speicherung von sogenannten Verkehrsdaten, also der IP-Adresse als Nutzererkennung, erklärte Claus. "Mir haben Spezialeinheiten von Staatsanwaltschaften berichtet, dass es eine Vielzahl von Fällen von Missbrauch gibt, die sich nicht mehr ermitteln lassen, weil IP-Adressen oder E-Mail-Adressen fehlen."

Früherer Kirchenmusikdirektor will weitere Aufklärung

Der ehemalige Hamburger Kirchenmusikdirektor Matthias Hoffmann-Borggrefe ist irritiert über die Ergebnisse der Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche (ForuM). "Ich empfinde es als unglaublich, dass die Landeskirchen es nicht geschafft haben, alle Daten offenzulegen. Da drängt sich für mich schon die Frage auf, ob sie es denn überhaupt wollten", sagte der 60-Jährige dem epd. Hoffmann-Borggrefe war selbst in seiner Kirchenmusik-Ausbildung in den 1980er Jahren in Düsseldorf sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen.

Seinem Empfinden nach gehe es immer noch darum, das Ansehen der Institution Kirche zu schützen. Das Forscher-Team hatte bei der Veröffentlichung der Studie erklärt, aufgrund der mangelhaften Datenlage sei nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs" ans Licht gekommen. "Der Rest aber, der ganze restliche Eisberg, hat nicht die Kraft, seine Stimme zu erheben. Nicht Ab-arbeiten, sondern Auf-arbeiten sollte jetzt die Devise sein", erklärte Hoffmann-Borggrefe, der über 20 Jahre lang Kantor und Organist an der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai war.

Im Umfeld von Gemeinden, Heimen, Schulen, Ausbildungsstätten müsste nach weiteren Opfern und Tätern gesucht werden. Meist beschränke sich der Umgang mit Betroffenen bislang lediglich darauf, diejenigen, die sich meldeten, schnell abzuarbeiten und maximal mit kleinen Geldsummen ruhig zu halten, sagte der Kirchenmusiker.

Wie die Kirche mit ihm als Betroffenen umgegangen sei, sei fast noch schlimmer gewesen als die sexuelle Gewalterfahrung selbst. "Als ich den Vorfall 1989 zum ersten Mal meldete, wurde ich von der Oberkirchenrätin einfach weggeschickt wie ein Nestbeschmutzer. Auch später hat kaum jemand verstanden, was ich durchmache. Kirche muss uns da mehr beistehen", erklärte er.

Hoffmann-Borggrefe war 1984 in seiner Ausbildung zum Kirchenmusiker an der Robert-Schumann-Musikhochschule in Düsseldorf von seinem damaligen Professor vergewaltigt worden. Die Evangelische Kirche im Rheinland hatte den Fall 2011 anerkannt. Bis heute leide er an den Folgen, seit zwölf Jahren mache er eine Traumatherapie, so Hoffmann-Borggrefe. "Aufgrund meiner psychischen Erkrankung bin ich mittlerweile schwerbehindert und kann nicht mehr arbeiten. Mein Leben ist zerstört."

Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland beauftragtes Forscherteam hatte am 25. Januar in Hannover eine Studie vorgestellt, in der für den Zeitraum von 1946 bis 2020 von bundesweit mindestens 2.225 Betroffenen sexueller Gewalt und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Die Zahlen seien allerdings in einer "sehr selektiven Stichprobe" ermittelt worden und bildeten keineswegs das Ausmaß sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie ab, hieß es.