Lutheraner mobilisierten zur Wahlbeteiligung

Wahllokal in Warschau-Wesoła
© Dariusz Bruncz
Wahllokal in Warschau-Wesoła (Foto). Journalist Dariusz Bruncz berichtet über die Lage in Polen nach den Parlamentswahlen.
Machtwechsel in Polen
Lutheraner mobilisierten zur Wahlbeteiligung
In die polnische Politiklandschaft ist Bewegung gekommen. Nach den Parlamentswahlen sieht es so aus, als ob es bald eine neue Regierung geben könnte. Der freie Journalist Dariusz Bruncz berichtet für uns über die Lage vor Ort.

Die Parlamentswahlen in Polen vom vergangenen Wochenende wimmelten von Bildern, die in die Geschichte der jungen polnischen Demokratie eingehen werden. Die größte Gewinnerin der Wahlen ist die Wahlbeteiligung und damit auch die Zivilbevölkerung. Mit 74 Prozent wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern verzeichnete Polen einen nie da gewesenen Sieg der Demokratie. Nicht einmal die ersten, teilweise freien Wahlen von 1989 nach den turbulenten und finsteren Zeiten des Kommunismus erfreuten sich so großer Beteiligung als die letzten. 

Die regierende rechts-nationale PiS-Partei von Jarosław Kaczyński ist zwar aus den Wahlen als die stärkste politische Kraft zum dritten Mal hervorgegangen, aber auch mit 35 Prozent aller Stimmen wird sie keine regierungsfähige Mehrheit im Sejm (min. 231 Stimmen von 460) bilden können. Der Grund dafür ist simpel: Die Oppositionsparteien, auch wenn sie bei etlichen Themen verschiedene Akzente setz(t)en oder gar gegensätzliche Positionen vertreten, erklärten ihren Willen, die PiS abzulösen und die zweite demokratische Wende gemeinsam herbeizuführen. Und gemeinsam verfügen sie über 248 Mandate. 

Der Machtwechsel steht bevor, aber die Regierungsbildung wird mühsam sein, da die Rolle des Staatspräsidenten im polnischen Grundgesetzt von Bedeutung ist und das amtierende Staatsoberhaupt Andrzej Duda nicht gerade positiv gegenüber der Noch-Opposition gesinnt ist.

Menschen stehen in der Schlange, um ins Wahllokal in Warschau-Targówek zu kommen.

Der andere Grund ist eine Unmenge an Aufgaben, die die neue Regierungskoalition anpacken muss und wo nicht immer Übereinstimmung herrscht. Und die Themenpalette ist breit und weit – vom Streit mit der EU über die Rechtsstaatlichkeit, Außenpolitik, Abrechnung mit Machtmissbrauch, über die Migrantenfrage, Wohnungsmangel bis hin zur Bildungs- und Sozialsystemreform oder Abtreibungsfrage im Paket mit der Debatte über die Rolle der noch dominierenden römisch-katholischen Kirche in der Politik. 

Religion und die Wahlurnen

Das Wahlergebnis bestätigte Risse, die mitten durch die Gesellschaft gehen – sowohl zwischen verschiedenen Altersgruppen und Bildungsschichten, zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen sehr stark katholisch geprägten Gebieten im Osten und Südosten von Polen, die immer noch als Hochburgen des Nationalkatholizismus gelten. Auch wenn die Säkularisierung in Polen ein anderes Gesicht als in der Bundesrepublik hat, lässt sich der Prozess der Entkirchlichung nicht aufhalten und ist leicht bemerkbar. 

Einen Monat vor den Parlamentswahlen hat das Statistische Hauptamt lange erwartete Tabellen von der 2021 durchgeführten Volkszählung veröffentlicht. Mitten in der Pandemiezeit wurden alle polnischen Bürgerinnen und Bürger auch nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit befragt. Die Ergebnisse waren schockierend. Erdrutschartige Verluste der römisch-katholischen Kirche zeigten einen Riesen in der tiefen Krise – bei der letzten Volkszählung erklärten sich noch 89 Prozent aller Polen römisch-katholisch.

Nach zehn Jahren fiel die Zahl auf 71 Prozent und man kann davon ausgehen, dass die Zahl pandemie- und politikbedingt derzeit noch niedriger ausfallen dürfte. Die tiefe parteipolitische Verwicklung wichtiger katholischer Würdenträger, die nicht nur keinen großen Hehl aus ihrer Zuneigung zur PiS machten, sondern auch demonstrativ Kanzeln während liturgischer Feiern für parteipolitische Angriffsreden zur Verfügung stellten, führten unter anderem dazu, dass sich weniger Menschen in Polen der katholischen Kirche zugehörig fühlen. Hinzu kamen immer häufigere Meldungen über Kindesmissbrauch sowie über einen elektrisierenden Skandal in einer oberschlesischen Diözese, wo sich ein paar Priester einen Sexarbeiter ins Pfarrhaus bestellten, der während des Abends ohnmächtig wurde, sodass Polizeibeamten eingreifen mussten. 

Wladyslaw Kosiniak-Kamysz (l), und Szymon Holownia, Vorsitzende des christlich-konservativen Dritten Weges, eine Koalition aus der zentristischen Partei Polen 2050 und der agrarischen Polnischen Volkspartei begrüßen Anhänger in der Wahlzentrale. Nach der Parlamentswahl in Polen bleiben die Nationalkonservativen laut Prognosen stärkste politische Kraft - jedoch könnten drei Oppositionsparteien die neue Regierung bilden.

Auch die Zahl derer, die die Auskunft zur Konfessionszugehörigkeit verweigerten, stieg dramatisch. Das religiöse Element spielte im Wahlkampf eine nicht unbedeutende Rolle, da sich die PiS-Partei als Verteidigerin traditioneller Werte und des katholischen Glaubens inszenierte. Auf der anderen Seite standen Parteien, die entweder für die strikte Trennung von Staat und Kirche plädierten (Linke) oder sich klar dafür ausgesprochen haben, solche Regelungen auf den Weg zu bringen, die die Kirche entpolitisieren und ihren Einfluss auf Politik ausmerzen sollten.

Ob Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes oder Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen- da scheiden sich die Geister der zukünftigen Koalitionsparteien – das ist besonders sichtbar bei der Bauernpartei PSL, die ein Teil der Dritten-Weg-Bewegung ist. Aber auch Szymon Hołownia, der andere Gründungsvater dieses Erfolgsprojekts, wird nicht gerade mit radikal fortschrittlichen Ideen assoziiert. Spöttisch wird er von links gesinnten Kritikern als Altarjunge abgekanzelt, da er früher einer der profiliertesten Vertreter des sog. "Offenen Katholizismus" war und sogar zweimal im Priesterseminar war. In weltanschaulichen Fragen repräsentieren er und seine Befürworter eher den gemäßigten Weg, obwohl sich auch hier immanente Abweichungen klar abzeichnen.

Lutheraner wählen eher Mitte-links

Während des Wahlkampfes war die größte protestantische Kirche – die Evangelisch-Augsburgische (Lutherische) Kirche eher "mit sich selbst" beschäftigt, und zwar mit der Organisation und Durchführung der 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau. Nichtsdestotrotz gab es vor den Wahlen klare Signale seitens der Evangelischen, besonders im Blick auf die Erhöhung der Wahlbeteiligung. Zeitgleich mit den Wahlen tagte in Łódź (Lodsch) die Landessynode der lutherischen Kirchen in Polen und schon im synodalen Eröffnungsgottesdienst in der imposanten St Matthäuskirche rief der Gastgeber Pfarrer Michał Makula (Oberkonsistorialrat) zum Urnengang auf: "Ich bitte euch! Geht wählen!". Auch im Abschlussgottesdienst, an dem ökumenisch auch der frisch gebackene Kardinal Grzegorz Ryś (Erzbischof von Lodsch) teilnahm, wurde dazu aufgerufen, wählen zu gehen. 

Auf X.com (ehemals Twitter) veröffentlichte der Bischof der polnischen Lutheraner Jerzy Samiec einen Aufruf an die Gläubigen: Im Leben treffen wir verschiedene Entscheidungen. Heute gibt es diese besondere [Entscheidung], weil sie nicht nur uns selbst betrifft, sondern auch unsere Nächsten und Europa. Geht wählen.

Und am Tag danach schrieb Bischof Samiec wieder, dass er unabhängig vom endgültigen Ergebnis Dankbarkeit, Freude und Anerkennung fühle, dass so viele Menschen ihr bürgerliches Engagement zum Ausdruck gebracht hätten. Der Bischof bedanke sich bei Menschen, die in der Kälte in Warteschlangen gestanden hatten. Der Superintendent der evangelisch-reformierten Kirche, die ca. 1000 Mitglieder hat, Bischof Przemysław Semko Koroza, veröffentlichte vor den Wahlen einen offenen Brief, in dem er sich gegen Hetze und Ausländerfeindlichkeit seitens mancher Politiker ausgesprochen hatte. 

Obwohl die Wahlpräferenzen religiöser Minderheiten in Polen nicht gründlich geprüft worden waren, darf man davon ausgehen, dass gerade evangelische Christen, auch wenn sie nicht komplett homogen sind, eher mitte-bürgerlich oder links wählen und sich in der Regel von katholisch-nationalistisch verbrämten Gruppierungen abgrenzen. 

Exemplarisch dafür ist Wisła – ein Kurort in den schlesischen Beskiden, wo die Mehrheit der Einwohner seit der Reformationszeit Lutheraner sind. Bei sämtlichen Wahlen in der Stadt und Gemeinde bekommen bürgerliche oder links orientierte Kandidaten immer die Mehrheit – das sah man bei den letzten Präsidentschaftswahlen, als der oppositionelle Kandidat Rafał Trzaskowski (Warschauer OB) über 70 % der Stimmen bekam sowie bei den letzten Wahlen, bei denen die demokratische Oppositionen auch mehr als 70 % der Stimmen auf sich vereinen konnte. 

Die kleine lutherische Kirche in Polen hat nach eigenen Angaben 60.000 Mitglieder (nach der amtlichen Volkszählung mehr als 66 Tsd.) und außer Teschener Schlesien, wo die Hälfte aller polnischen Lutheraner wohnt, lebt sie in großer Diaspora, besonders in Groß- und Kleinstädten. Trotz ihrer kleinen Mitgliederzahl ist die Kirche in der Gesellschaft sehr präsent und ihre Vertreter äußern sich zuweilen zu manchen politischen Themen. Die Zahl von Stellungnahmen oder Positionspapieren zu brennenden politischen Fragen fällt aber evangelischerseits eher bescheiden aus, womöglich aus der protestantischen Enthaltsamkeit und Überzeugung sowie im (un)bewussten Gegensatz zur katholischen Mehrheitskirche und ihrer Verlautbarungsmoral, dass man vor allem auf eigene Verantwortung und Gewissen setzen soll. 

Im neuen Sejm wird es mindestens eine Lutheranerin geben – aus dem Wahlkreis Olsztyn (Allenstein) wurde erneut Urszula Pasławska (Dritter Weg) wiedergewählt. Sie ist nicht nur Vize-Vorsitzende der Bauernpartei, aber auch Mitglied in der Synode der Masurendiözese der Evangelisch-Augsburgischen Kirche. 

Die zweitgrößte Kirche – die Polnisch-Orthodoxe Kirche mit ca. 150.000 Gläubigern – hat sich in keiner Weise positioniert und wird eher als regierungsnah betrachtet, egal wer an der Macht ist. Obwohl die Kirche über bedeutende Ressourcen in Ostpolen verfügt, ist es keinem orthodoxen Repräsentanten gelungen, ins Parlament zu ziehen. Dieser Sachstand ergibt sich womöglich aus der Tatsache, dass die orthodoxe Diaspora in Polen auch politisch polarisiert ist und weite Teile der Gläubigen – sei es aus Vorsicht oder aus Ablehnung – eher zurückhaltend oder gar nicht auf politisches Geschehen reagiert.