TV-Tipp: "Lauf Junge lauf"

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1. September, 3sat, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Lauf Junge lauf"
Die Ereignisse, über die Jugendbuchautor Uri Orlev in seinem Bestseller "Lauf, Junge, lauf" berichtet, sind derart abenteuerlich, dass ein Drehbuch höchstwahrscheinlich umgehend das Prädikat "völlig unglaubwürdig" erhalten würde.

Und doch ist alles wahr, was Orlev schildert, denn sein Buch und somit auch das Drehbuch von Heinrich Hadding basieren auf den Erinnerungen des mittlerweile rund achtzig Jahre alten Yoram Fridman. Pepe Danquart, Regisseur von Dokumentarfilmen wie "Höllentour" oder "Joschka und Herr Fischer", hat aus den Erlebnissen vor rund zehn Jahren ein großes Drama gemacht, das nicht nur aus thematischen Gründen im gleichen Atemzug genannt werden sollte wie "Das Tagebuch der Anne Frank" oder der deutsche Fernsehfilm "Nicht alle waren Mörder". 

Danquart und sein Kameramann Daniel Gottschalk haben kraftvolle Bilder für eine Geschichte gefunden, die weit über sich hinausweist: Im Sommer 1942 gelingt dem achtjährigen jüdischen Srulik (gespielt von den Zwillingen Andrzej und Kamil Tkacz) die Flucht aus dem Warschauer Ghetto. Fortan muss er sich allein durchschlagen, immer wieder auf der Flucht vor deutschen Soldaten, ständig auf der Hut vor seinen Landsleuten, die ihn für eine Belohnung an die Besatzer ausliefern könnten. Doch er findet auch barmherzige Seelen, die sich seiner annehmen: Eine Bäuerin (Elisabeth Duda), deren Mann und Söhne bei den Partisanen kämpfen, gewährt ihm Unterschlupf und verrät ihn selbst dann nicht, als Soldaten ihr Gewalt androhen. Sie bringt ihm bei, sich wie ein kleiner Katholik zu benehmen. Später, als sich Srulik, der sich dank Magdas Geduld erfolgreich in Jurek verwandelt hat, erneut bei ihr versteckt, fackeln die Deutschen ihren Hof ab, aber sie schweigt immer noch. 

Vordergründig ist "Lauf Junge lauf" ein Abenteuerfilm mit einem sympathischen kleinen Helden, den man umgehend ins Herz schließt, zumal er ausgesprochen pfiffig ist: Als ein SS-Offizier (Rainer Bock) ihn erschießen will, sperrt Jurek den Deutschen kurzerhand in einem Stall ein und macht sich aus dem Staub. Zunächst ist das sogar komisch, aber dann hetzen die Soldaten ihre Hunde auf ihn, und die Kugeln pfeifen ihm um die Ohren. Auch in den vermeintlich idyllischen Szenen sorgt Danquarts Inszenierung dafür, dass man nie vergisst, was auf dem Spiel steht. Jurek lebt in ständiger Angst, als Jude enttarnt zu werden. Augenblicke der Unbeschwertheit, etwa ein Wettpinkeln mit der männlichen Dorfjugend, werden umgehend bestraft: Einer der Jungs sieht, dass er beschnitten ist, und denunziert ihn prompt. 

Mindestens genauso viel Gewicht hat jedoch die Verbeugung vor all den Gerechten, denen Jurek immer wieder begegnet. Selbst der SS-Mann drückt ein Auge zu, als er den Jungen auf dem Hof einer Deutschpolin (Jeanette Hain) entdeckt. Doch jede Verschnaufpause ist bloß der Vorbote eines weiteren Schocks: Jurek gerät mit der rechten Hand in ein Zahnrad, ein Arzt weigert sich, den jüdischen Jungen zu operieren, und als sich endlich ein älterer Mediziner seiner annimmt, ist der Arm nicht mehr zu retten. Von den vielen berührenden Szenen ist jene, in der Jurek im Spiegel den nutzlosen Stummel betrachtet, am erschütterndsten. 

Zu einem großen Film wird "Lauf Junge lauf" auch durch die Bildgestaltung (Daniel Gottschalk, die große sinfonische Kinomusik (Stéphane Moucha) sowie durch das dramaturgische Konzept. Die Vorgeschichte der Flucht wird zwischendurch nachgereicht, wenn Jurek träumt oder sich seinen Erinnerungen hingibt; endgültig schließt sich der Kreis erst am Ende, als die Rote Armee Polen befreit und Jurek in ein jüdisches Waisenhaus gebracht werden soll.

Zwischendurch gibt es mehrfach denkwürdige, aber trotzdem beiläufig inszenierte Momente, wenn Danquart beispielsweise mit einem kühnen Schnitt ganze Jahreszeiten zusammenfasst oder wenn Jurek, ohne es zu wissen, Magdas Sohn begegnet. Ein Meisterwerk.