Scheinheilige Debatte über Judenfeindlichkeit?

Hubert Aiwanger dirigiert
© Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler und stellvertretender Ministerpräsident in Bayern, weist die Kritik an seiner Person und die Antisemitismusvorwürfe zurück. Sein Bruder habe das besagte Flugblatt geschrieben, von dem er sich inhaltlich distanziere.
Causa Aiwanger empört
Scheinheilige Debatte über Judenfeindlichkeit?
Seit Tagen stehen Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Gebrüder Aiwanger zur Debatte. Das judenfeindliche Flugblatt soll nur eine Jugendsünde sein? 
Ramona Ambs ist Jüdin und Schriftstellerin und sieht eine scheinheilige Diskussion.

Seit Tagen stehen Antisemitismus-Vorwürfe gegen den bayrischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und gegen seinen Bruder zur Debatte. Ein Flugblatt, das es in sich hatte, soll eine Jugendsünde sein?  Ramona Ambs ist Jüdin und Schriftstellerin. In Heidelberg betreibt sie eine Praxis für Poesietherapie. Seit Jahren verfolgt sie Diskussionen über Antisemitismus in Deutschland. Über die Causa Hubert Aiwanger und die laufende Antisemitismus-Debatte hat sie mit evangelisch.de gesprochen. 

Ramona Ambs, was geht in Ihnen vor, wenn Sie lesen, dass der bayrische stellvertretende Ministerpräsident Aiwanger als Schüler vor mehr als 30 Jahren ein antisemitisches Flugblatt verteilt hat? 

Ramona Ambs: Naja, an sich bin ich ja viel antisemitische Post gewöhnt, ich habe derlei ja immer mal wieder im virtuellen Postfach, aber soviel Menschenverachtung und Zynismus wie auf diesem Flugblatt findet man schon selten. Und es ist in einer Perfektion abgefasst, sowohl optisch als auch orthographisch, die ich bemerkenswert und gleichzeitig unendlich ermüdend und deprimierend finde. Dass es aus dem Hause Aiwanger stammt, hat mich wiederum nicht sehr verwundert.
  
Was ist antisemitisch an dem Flugblatt? 

Ambs: Antisemitismus benötigt nicht zwangsläufig das Wort Jude, um als solcher identifiziert zu werden. Das funktioniert oft auch über Chiffren und Bilder. Die Chiffren hier sind Vergnügungsviertel Auschwitz, Dachau, Gestapo-Keller. Hier stehen sozusagen "nur"  Nazi-Gewaltphantasien, die aber, so dargeboten, natürlich sowohl eine Verhöhnung der ermordeten Juden sind, als auch letztlich eine Verherrlichung der NS-Ideologie beinhalten, und deren zentrales Anliegen war ja die Vernichtung der Juden. Und natürlich macht so was Angst. Mangelnde Bildung kann man hier ausschließen, - das dokumentiert das Flugblatt ja quasi selbst, - es ist nur mangelnde Empathie, mangelnde Reflexion, mangelnder Anstand.

Ist das eine Jugendsünde von Aiwanger? Oder beobachten Sie da eine Kontinuität?

Ambs: Oh, ich finde es passt zu vielen seiner Äußerungen der letzten Jahre. Deswegen würde ich ihm eine Entschuldigung, die es ja bisher auch nicht gegeben hat, ohnehin nicht abnehmen. Ich erinnere mich noch daran, wie er 2012 mit Beatrix von Storch den Euro-Rettungsschirm stoppen wollte und dabei ausgerechnet der neurechten "Jungen Freiheit" ein Interview gab und die Kanzlerin Angela Merkel als "altes Schlachtross" bezeichnete. Derlei zieht sich durch die letzten Jahre. Die pauschale Migrantenschelte nach den Ausschreitungen zu Silvester oder auch in den letzten Monaten hat er immer wieder Dinge von sich gegeben, die stark an neurechte Verschwörungstheorien erinnern. So hat er beispielsweise bei Lanz behauptet, Deutschland sei nur formal eine Demokratie, dominiert von linken Eliten und er hat dazu aufgefordert, sich die Demokratie zurück zu holen... - das ist im Grunde Antisemitismus in Neusprech. Er hat gelernt, dass man Nazis nicht mehr gut finden kann, aber inhaltlich sehe ich da doch deutliche Kontinuitäten. 

Autorin Ramona Ambs vermisst in der Verteidigung Aiwangers die Empathie mit den Holocaustopfern.

Wie kann jemand Verantwortung übernehmen? 
 
Ambs: Was mich in all diesen Debatten  immer wieder deprimiert, ist die vorhersehbare Komposition der Abläufe. Ähnlich einer Sinfonie. Der linke Antisemitismus wird erst in einer konservativen Zeitung angeprangert und publiziert, der rechte Antisemitismus hingegen von eher linken Blättern. Die jeweils andere Seite springt dem jeweils Beschuldigten erstmal bei, relativiert, was das Zeugs hält und unterstellt den Aufklärern eine Kampagne. Das ist die Tonika. Im zweiten Akt dann trudeln die Restinformationen und Erklärungen ein. Im dritten Teil wird dann um einen Rücktritt rumgetänzelt ... ein Scherzo oder Menuett. Und am Ende steht das schnelle Finale in der Grundtonart. Fertig ist die Sinfonie der Antisemitismusdebatte. 

Was wünschen Sie sich?

Ambs: Was nie passiert: dass sich Beschuldigte - und es ist wirklich egal, welche politische Couleur sie tragen - mal selbstkritisch hinstellen und sagen: Ja, da hab ich wirklich Mist gebaut. Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe es aus dieser oder jener Motivation heraus getan, etc... Und da dies nie passiert, wird auch nie über den Antisemitismus oder die Menschenfeindlichkeit selbst gesprochen, sondern es findet das statt, was die Forschung als "sekundären Antisemitismus" bezeichnet: Schuldabwehr, Relativierungen, Täter-Opfer-Umkehr... am Ende steht meist ein Rücktritt, ein Abbau von Kunstwerken oder eben auch nicht. Als sei es damit wieder gut und erledigt. Aber darüber geredet, warum das immer wieder passiert und was das mit uns allen macht, das findet nicht statt. Denn dafür müsste ja jeder bei sich selbst anfangen... aber dafür ist man insgesamt zu mutlos.