TV-Tipp: "37 Sekunden"

Getty Images/iStockphoto/vicnt
Dienstag, 15. August, ARD, 22:50 Uhr
TV-Tipp: "37 Sekunden"
Ab wann wird aus Sex eine Vergewaltigung? Die Serie von Julia Penner beleuchtet einen Graubereich und macht deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von ein und demselben Ereignis sein kann.

Die Partygäste sind guter Dinge, die Geburtstagsstimmung ist ausgelassen, bloß eine junge Frau wirkt bedrückt; die Flasche Wein, die sie mitgebracht hat, leert sie kurzerhand zur Hälfte selbst, bevor sie sie dem Mann überreicht, in den sie sich verliebt hat. Carsten Andersen, ein prominenter Sänger, ist mindestens doppelt so alt und verheiratet. Die Liaison hat keine Zukunft, das Paar beendet sie einvernehmlich. So wird Carsten später auch den Abschiedssex in seinem Musikstudio bezeichnen. Leonie hat das anders empfunden, sie hat unmissverständlich "nein" gesagt, aber als Carsten gehen wollte, hat sie ihn zurückgehalten und sich nicht mehr gegen die Penetration gewehrt. 

Die von Julia Penner initiierte Serie "37 Sekunden" beleuchtet einen Graubereich: Wo endet die Einvernehmlichkeit, wann beginnt die Nötigung? Anders als in vergleichbaren Filmen und Serien bleibt die Kamera dabei, als sich das Paar trifft. Später, als Carsten und Leonie einem Polizisten schildern, wie sie die Begegnung erlebt haben, und sich die Rückblenden auf die entsprechenden Perspektiven konzentrieren, wird deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung ein und desselben Ereignisses sein kann, denn beide Interpretationen sind nachvollziehbar. 

Neben dem Dänen Jens Albinus als charismatischer Liedermacher beeindruckt "37 Sekunden" vor allem durch das nachdrückliche Spiel der kaum bekannten Paula Kober (beide singen selbst). Darstellerisch wie auch inhaltlich besonders wird die Serie zudem durch Emily Cox. Ihre Rolle sorgt dafür, dass die sechs Episoden neben dem Vergewaltigungsvorwurf zunächst auch von einem Loyalitätsdilemma handeln: Anwältin Clara ist Leonies beste Freundin. Als die Nachwuchsmusikerin der Juristin von dem Vorfall berichtet, ohne allerdings den Namen ihres Ex-Freunds zu nennen, rät Clara ihr dringend, zur Polizei zu gehen: Männer dürften mit einem derartigen Verhalten nicht durchkommen. Ihre Haltung ändert sich, als sie erfährt, dass es sich bei dem Vergewaltiger um ihren Vater handelt.  

Spätestens mit Beginn der dritten Folge sind die Rahmenbedingungen klar, sodass sich die Frage stellt: Trägt die Handlung über 270 Minuten? Die lange Strecke hat jedoch den unschätzbaren Vorteil, dass Penner, die mit David Sandreuter einen männlichen Koautor hinzugezogen hat, die Geschichte differenziert erzählen kann. Ausführliche, aber nie langwierige Szenen beleuchten das emotionale Geflecht des zentralen Trios: hier die nach dem Tod der Mutter umso intensivere Beziehung zwischen Vater und Tochter, dort die innige Freundschaft der beiden jungen Frauen.

Selbstredend haben die Ereignisse, die schließlich öffentlich werden, auch gravierende Folgen für Andersens Familie: Gattin Maren (Marie-Lou Sellem) steht zwar an seiner Seite, aber Claras Ehe leidet erheblich unter der Belastung. Ihr 18jähriger Bruder Jonas (Valentin Mirow), selbst in Leonie verliebt, ist sogar bereit, gegen den Vater auszusagen: Er war Ohrenzeuge des Übergriffs. Dass er schließlich in einem Anfall von spätpubertärem Trotz das Studio zerlegt, wirkt allerdings etwas übertrieben. 

Zunächst geht es jedoch um Leonie. Sie hat ein Video ins Netz gestellt, in dem sie über das Ereignis spricht, ohne den Namen des Mannes zu nennen. Clara, ohnehin entsetzt über den Vorwurf gegen Carsten, bittet sie eindringlich, das Video zu löschen: In Kürze erscheint nach vielen Jahren erstmals wieder ein neues Album, eine Comeback-Tournee ist bereits ausverkauft. Leonie tut ihr den Gefallen, aber dann meldet sich Carstens Manager (Martin Feifel) und bietet ihr einen Plattenvertrag an; vorausgesetzt, die Rechtsabteilung könne die Netzwerke der Musikerin durchforsten.

Erst jetzt geht sie zur Polizei; mitsamt der Juristin (Denise M’Baye), die Clara ihr empfohlen hat. Auch sie empfiehlt die Löschung von verfänglichen Posts, Videos und Fotos, weil sie ahnt, dass die Gegenseite die "Schlampentaktik" anwenden werde, und tatsächlich wird es nun schmutzig; Marc Benjamin macht als Andersens Anwalt aus seiner Szene während der Verhandlung, als er Leonies Anzeige perfide zum "Karriere-Booster" umdeutet, einen gänsehautguten Auftritt. 

Zu Beginn der Drehbuchentwicklung durch Penner, die zuletzt maßgeblich an der famosen Dragqueen-Krimikomödie "Meine Freundin Volker" (2023) beteiligt war, stand die Frage, ab wann aus Sex eine Vergewaltigung wird. Das war 2016, die Reaktionen auf den Stoff waren durchwachsen; und dann wurde im Herbst 2017 der Weinstein-Skandal publik, "#MeToo" war geboren.

Als klar war, dass sich solche Delikte durch die gesamte Gesellschaft ziehen, rückte die Autorin einen zweiten Aspekt ins Zentrum: Warum wechselt Clara so vorbehaltlos die Seite, als sie erfährt, wer der Vergewaltiger ist? Jede vierte sexuelle Belästigung, sagt Penner, "findet im Bekannten- oder Freundeskreis statt, aber diese Vorfälle werden so gut wie nie zur Anzeige gebracht. Weshalb unternehmen die Freunde, Bekannten und Angehörigen nichts?" Vermutlich, weil es vielen so ähnlich wie Clara gehe: "Sie können sie sich das nicht vorstellen; aber vielleicht wollen sie es auch nur nicht wahrhaben."  Leider zeigt das "Erste" die Serie heute und am kommenden Dienstag (jeweils drei Folgen) erst am späten Abend. Sie steht allerdings bereits komplett in der ARD-Mediathek.