"Ich denke, das wird ein größerer Einschnitt"

Portrait von Margot Käßmann aus dem März 2021
© epd-Bild/Jens Schulze
Aufs Bücherschreiben und Predigen will Margot Käßmann auch künftig nicht ganz verzichten. Aber sie wolle ihre öffentlichen Aktivitäten doch deutlich reduzieren, berichtet sie im Interview zu ihrem 65. Geburtstag.
Margot Käßmann wird 65
"Ich denke, das wird ein größerer Einschnitt"
Margot Käßmann gehört sicher zu den bekanntesten Theologinnen in Deutschland. Am 3. Juni wird die ehemalige Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende 65 Jahre alt. Im Interview spricht sie über die Verrohung der öffentlichen Kritik, zunehmende Kirchenaustritte, die Rolle der Frau und den Stellenwert von Kindern - und das, was sie künftig nicht mehr machen wird.

Frau Käßmann, manche Menschen bezeichnen den Ruhestand auch als Unruhestand. Sie auch?

Margot Käßmann: Ich bin eigentlich sehr ruhig (lacht). Ich genieße es, nicht mehr so durchgetaktet zu sein, und dass der Druck im Alltag nicht mehr so hoch ist wie früher. Aber ich habe doch sehr viel gepredigt in den letzten Jahren, Lesungen und Vorträge gehalten und Bücher geschrieben. Allein im vergangenen Jahr hatte ich 25 Gottesdienste. Und dann haben natürlich sieben Enkelkinder mein Leben sehr verändert. Gerade in der Corona-Zeit wurden die Großeltern ja gebraucht zur Betreuung, weil die jungen Familien unwahrscheinlich darunter gelitten haben, dass zeitweise kein Kindergarten und keine Schule geöffnet war.

Die Enkel halten Sie gut auf Trab?

Käßmann: Ja, aber das ist keine Belastung, sondern ein großes Glück und ein Segen. Ich war bei der ersten Enkeltochter 54 Jahre. Es ist schön, noch aktive Großmutter sein zu können. Darum wird es auch in meinem nächsten Buch gehen. Der Titel heißt "Kostbare Zeit".

Als Beobachter hat man den Eindruck, dass Sie in den Medien und Ehrenämtern so präsent sind wie eh und je. Wie lange wollen Sie das noch machen?

Käßmann: Viele Aufgaben werde ich mit dem 65. Geburtstag aufgeben. Als Botschafterin des Kinderhilfswerks terre des hommes werde ich im Juni aufhören, und auch aus verschiedenen Kuratorien scheide ich demnächst aus. Meine Podcasts werde ich einstellen. Ich habe alle politischen Talkshows abgesagt, und auch die Kolumne bei der "Bild am Sonntag" ist beendet. Die habe ich neun Jahre lang für jeden Sonntag geschrieben, seit Pfingsten 2014. Ich werde aber weiterhin Bücher schreiben und habe gesagt: Zehn Predigten, zehn Vorträge, zehn Lesungen im Jahr - das ist jetzt mein Maßstab.

"Ich werde älter und weiß, wie begenzt die Zeit ist"

Also ein echter Einschnitt. Warum?

Käßmann: Ich denke, dass der 65. Geburtstag ein größerer Einschnitt wird als der sechzigste. Erst einmal werde ich älter, das merke ich jetzt auch. Und ich weiß, wie begrenzt die Zeit ist. Ich hatte ja 2019 zum zweiten Mal eine Krebserkrankung. Ich finde es richtig, dass Menschen irgendwann abtreten und Jüngeren Platz machen.

Sie haben über viele Jahre hinweg immer wieder öffentlich Position bezogen, haben dafür aber auch viel Kritik eingesteckt. Wie sehr geht Ihnen das nahe?

Käßmann: An niemandem geht das spurlos vorüber. Deswegen sage ich mir: Ich muss mich jetzt nicht mit 65 auch noch weiter ständig dieser öffentlichen Kritik stellen, die ich gerade im letzten Jahr als ziemlich belastend empfunden habe. Ich glaube nicht, dass ich dünnhäutiger geworden bin. Aber die Art und Weise, wie Kritik geübt wird, ist respektloser geworden. Da wird per Mail nur so dahin gerotzt, ohne Anrede und ohne Absender. Das finde ich schon sehr unangenehm. Deshalb bin ich auch nicht in den sozialen Medien unterwegs.

"Wenn alle schweigen, ist der demokratische Diskurs gefährdet"

Sehen Sie eine Verrohung der Kritikkultur?

Käßmann: Wenn mir jemand einen kritischen Brief schreibt oder eine kritische E-Mail, finde ich das in Ordnung. Ich schätze eine gute Kritikkultur. Ich bin auch offen dafür, dass ein Mensch seine Meinung ändert, weil er neue Perspektiven wahrnimmt. Aber wenn du dich heute öffentlich äußerst und Position beziehst, dann wird oft gleich Spott, Häme und Diffamierung über dich ausgeschüttet. Ich frage mich, wie lange sich das viele Politikerinnen und Politiker noch antun. Und wenn dann alle schweigen, ist die demokratische Diskurskultur gefährdet.

Ihre Zeit als Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende liegt jetzt 13 Jahre zurück. Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute auf diese Zeit?

Käßmann: Es war sicher die dichteste Lebensphase für mich. Bischöfin der hannoverschen Landeskirche zu sein, ist eine wunderbare Aufgabe, aber auch sieben Tage die Woche erfüllend. Was ich am schönsten fand in dieser Zeit, waren die vielen bewegenden Gottesdienste. Und ich habe Niedersachsen in dieser Zeit sehr liebgewonnen und viele Ecken kennengelernt, in die ich sonst nie gekommen wäre: von Papenburg bis an die Elbe und vom Harz bis nach Cuxhaven. Es war aber auch eine herausfordernde Zeit, denn meine vier Töchter waren noch Schulkinder.

"Es wird nicht wirklich investiert in Kinder. Das ist ein Armutszeugnis"

Sie waren an der Spitze der EKD 2009 und auch sonst in kirchlichen Ämtern oft die erste Frau. Hat sich aus Ihrer Sicht seit vieles in dieser Hinsicht verändert?

Käßmann: Was das Thema Frauen betrifft, hat sich seitdem viel bewegt. Die Gemeinde möchte einen guten Pastor oder eine gute Pastorin. Mann oder Frau, das ist zweitrangig. Was sich nicht wirklich verbessert hat, die ist Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das sehe ich an meinen Töchtern. Das ist vielleicht heute sogar schwerer als früher, weil so getan wird, als wäre es kein Problem. Es ist aber eines. Die jungen Frauen haben ja nicht die Betreuungsangebote für ihre Kinder, die sie brauchen. Die Kitas und die Schulen sind personell unterversorgt.

Was muss aus Ihrer Sicht passieren?

Käßmann: Ich wünsche mir, dass die Entscheidungsträgerinnen und -träger in diesem Land dieses Problem in den Blick nehmen. Es muss viel massiver ausgebildet werden für Erzieherinnen und Erzieher und für Lehrkräfte. Es wird immer gesagt: Kinder sind unsere Zukunft. Aber es wird nicht wirklich investiert in Kinder. Das ist ein Armutszeugnis für unser Land.

"Ich sehe mich in der Tradition der Pazifistinnen und Pazifisten"

Die heutige Debatte rund um die Kirche ist hauptsächlich von Vertrauensverlust und Austritten geprägt. Wie sehen Sie den Zustand der Kirche heute?

Käßmann: Ich finde diese Austrittszahlen bedrückend. Je weniger Menschen kirchlich sozialisiert sind, desto weniger Bindung haben sie an die Kirche. Aber was prägt dann unser Land? Ganz oft, wenn ich durch Dörfer fahre, dann sehe ich diese wunderbaren Kirchen und denke: Was wäre, wenn die nicht da wären? Wo haben wir dann noch Rituale? Was beten wir bei einer Trauerfeier? Der christliche Glaube ist doch auch Teil unserer Kultur.

Sie haben als Ihr lebenslanges Vorbild immer den US-amerikanischen Pastor und Bürgerrechtler Martin Luther King genannt. Was fasziniert Sie an ihm?

Käßmann: Erst einmal war er ein großartiger Prediger. Seine Predigten sind bis heute bewegend. Dann hat er als Träger des Friedensnobelpreises glasklar den Weg der Gewaltfreiheit gewählt, trotz Kritik. Trotz allem Rassismus in seinem Land hat er sich nicht dazu hinreißen lassen, selber zum Rassisten zu werden. Und er hat sich als Pastor immer wieder dafür eingesetzt, dass der Vietnam-Krieg endet. Das macht ihn für mich glaubwürdig.

Ist das auch ein Grund, weshalb Sie sich heute auch zum Krieg in der Ukraine äußern und westliche Waffenlieferungen kritisch sehen?

Käßmann: Auf jeden Fall sehe mich in der Tradition der Pazifistinnen und Pazifisten. Ich weiß, dass das in meiner Kirche eine Minderheitenposition ist. Aber das war immer auch eine wichtige Stimme.