TV-Tipp: "Tatort: Borowski und die große Wut"

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7. Mai, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Borowski und die große Wut"
Der Titel ist nicht falsch, aber die Stimmung des Films trifft er trotzdem nicht. Es ist zwar in der Tat viel Wut im Spiel, doch der Zorn ist bloß das Ventil; dahinter verbirgt sich tiefe Verzweiflung.

Inhaltlich wäre "Borowski und die Stimme am Telefon" ohnehin treffender gewesen, denn der Krimi besteht über weite Strecken aus Telefongesprächen, die der Kieler Hauptkommissar mit einer jungen Frau führt: Borowski (Axel Milberg) ist niedergeschlagen worden und befindet sich im Krankenhaus. An die Begleitumstände erinnern ihn nur noch Bruchstücke. Gerüche und Farben vor allem, aber auch akustische Fetzen: Billie Eilishs Lied "Bad Guy" sowie das einst von Bernard Herrmann für den Film "Twisted Nerve" (1968) entwickelte Pfeifmotiv, das durch Quentin Tarantinos Rache-Thriller "Kill Bill" (2003) berühmt geworden ist. Später zeigt sich, dass markante Klingeltöne ganz witzig, aber auch verräterisch sein können. 

Zunächst wird "Borowski und die große Wut" jedoch auf heftigste Weise dem Titel gerecht: Ein Mädchen bahnt sich ihren Weg durch die Menschen, die ihr auf dem Bürgersteig und dem Radweg entgegenkommen. Als sie eine Radfahrerin rücksichtslos auf die Straße stößt, wird die Frau von einem Laster überrollt. Quasi in der nächsten Szene wird Borowski von einem Krankenhausmitarbeiter schwer verletzt vor dem Klinikeingang gefunden: Hirnblutung, Notoperation, künstliches Koma. Jeder andere wäre froh, noch mal davongekommen zu sein, aber der Kommissar will die Fragmente seiner Erinnerungen so schnell wie möglich zusammensetzen, zumal er einen Notruf erhält: Die eingesperrte kleine Finja bittet ihn um Hilfe. Seine Telefonnummer steht auf dem Arm ihrer Schwester, Celina, die sie dort notiert hatte, als Borowski sie wegen des Todes der Radfahrerin befragte. Um Finja zu suchen, will er die Klinik umgehend verlassen, obwohl ihn nicht nur die empörte Ärztin, sondern auch Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) beschwören, im Bett zu bleiben. Tatsächlich fügt er sich schließlich, wenn auch nicht wegen der drohenden Lebensgefahr durch ein sekundäres Schädel-Hirn-Trauma: Auf dem Weg zum Ausgang vernimmt er das Motiv aus "Twisted Nerve". 

Schon allein dieser Einfall ist klasse, aber davon abgesehen beweisen Eva und Volker A. Zahn, für ihr Drehbuch zu dem Schülerdrama "Ihr könnt euch niemals sicher sein" (2008) mit dem Grimme-Preis geehrt, erneut, wie gut sie es verstehen, gesellschaftlich relevante Themen als fesselnde Krimis zu erzählen; erst neulich hat die ARD im Rahmen des "Tatorts" ihren Tagebaukrimi "Abbruchkante" ausgestrahlt. Auch "Borowski und die große Wut" ist hintergründig ein Sozialdrama. Was zunächst möglicherweise abschreckend klingt, entpuppt sich als originelle Alternative zum Sonntagsstandard, zumal der Film nie zum Kammerspiel wird; Regisseurin Friederike Jehn hat zuletzt "Du allein" (2020) gedreht, einen sehenswerten Stuttgarter "Tatort" über eine Heckenschützin.

Tatsächlich war dies sogar die Ausgangsidee: Wie lässt sich ein Krimi gestalten, dessen wichtigste Dialoge nur telefonisch ausgetauscht werden? Natürlich ist das möglich, wie verschiedene Beispiele bewiesen haben; das  Spektrum reicht vom Hitchcock-Klassiker "Bei Anruf Mord" (1954) bis zu US-Thrillern wie "Nicht auflegen!" (2002) und "The Call – Leg nicht auf!" (2013). Das Ehepaar Zahn stand jedoch zudem vor der besonderen Herausforderung, Sympathie für eine Figur zu wecken, die mutmaßlich eine komplett sinnlose Tat begangen und ihre kleine Schwester entführt hat, aber nur akustisch präsent ist: Die 18jährige Celina (Caroline Cousin) ist eine Systemsprengerin mit umfangreicher Jugendamtakte; was über ihre Kindheit berichtet wird, ist erschütternd. Als sie ankündigt, sich umbringen zu wollen, redet Borowski um ihr Leben. 

Für zwischenmenschliche Spannungen sorgt dagegen die veränderte Aufgabenverteilung innerhalb des Teams: Da ihr Chef krankgeschrieben ist, übernimmt Sahin die Leitung der Ermittlungen. Celina lebt bei ihrer Großmutter, die erstochen im Badezimmer liegt. Weil aus Sicht der Kollegin kein Zweifel daran bestehen kann, dass die junge Frau auch in diesem Fall die Täterin ist und Borowskis Telefon wegen ihrer regelmäßigen Anrufe abgehört wird, setzt er den Kontakt zu Celina hinter Sahins Rücken im Blumenladen der Klinik fort; außerdem verirrt er sich auch mal in die Heizungskatakomben des Krankenhauses. Überraschende Abwechslung verschafft ihm zudem eine etwas sonderbare Mitpatientin; Sophie von Kessel verkörpert diese etwas schräge, aber äußerst reizvolle Rolle, als habe sie sich von einem anderen Filmset in diesen "Tatort" verirrt.