"Jeder Mensch, jeder Einzelfall zählt"

Frau legt Hand auf Türklinke einer Kirchentür
© frantic00/iStockphoto/Getty Images
Seit 40 Jahren bieten die Kirchen Geflüchteten Kirchenasyl, um sie vor einer Abschiebung zu schützen, wenn begründete Zweifel an einer gefahrlosen Rückkehr bestehen.
40 Jahre Kirchenasyl
"Jeder Mensch, jeder Einzelfall zählt"
Die großen christlichen Kirchen in Deutschland bestehen darauf, Geflüchteten bei unzumutbaren humanitären Härten weiter in ihren Räumen Asyl zu gewähren.

Vor 40 Jahren fand das erste Kirchenasyl in Berlin statt. Aus christlicher Motivation heraus sei dieses ein letztes Mittel, um in Einzelfällen eine Abschiebung zu verhindern, sagte Ulrike La Gro, Sprecherin der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche mit Sitz in Berlin, in einem epd-Gespräch.

epd: Warum ist es für Sie wichtig, dass die Kirchen geflüchteten Menschen weiterhin Kirchenasyl gewähren?

Ulrike La Gro: Mit der Gewährung von Kirchenasyl können unzumutbare humanitäre Härten, die durch eine Abschiebung drohen, verhindert werden. Sich ins Kirchenasyl zu begeben, ist für viele Flüchtlinge die letzte Möglichkeit nach oft jahrelanger Flucht und Trauma eine bessere Zukunft für sich selbst und ihre Familien ins Auge zu fassen. Wir gewähren Kirchenasyl aus unserer menschlichen und insbesondere christlichen Überzeugung heraus, dass allen ein menschenwürdiges Leben und faire Prüfung ihres Asylantrags zustehen.

Wie hoch ist die aktuelle Zahl der Kirchenasyle, und wie vielen Menschen wurde es bisher gewährt?

La Gro: Aktuell wissen wir von 511 Kirchenasylen mit 786 Personen, 154 davon Kinder. Zwischen 1996 und 2022 waren mindestens 13.469 Personen im Kirchenasyl, 3.542 davon Kinder.

Die große Mehrzahl der Kirchenasyle sind sogenannte Dublin-Fälle, bei denen Geflüchteten eine Rückführung in ein europäisches Erstaufnahmeland droht: Sollte innerhalb der EU auf eine "gerechtere Umverteilung" von Asylsuchenden gedrungen werden?

La Gro: Unbedingt sollte es gerechtere Mechanismen der Verteilung in Europa geben. Das Problem an der Dublin-Regelung ist, dass von vergleichbaren Standards in Europa ausgegangen wird, die es faktisch nicht gibt. Die Anerkennungsquoten für die einzelnen Herkunftsländer sind extrem unterschiedlich und in der Dublin-III-Verordnung zählen erwachsene Kinder oder Geschwister nicht zur Familie. Auch wenn es auf europäischer Ebene momentan keine Mehrheiten dafür gibt, befürworten wir ein Modell, in dem Kosten geteilt werden und ankommende Flüchtlinge Wahlmöglichkeiten haben, wo in der EU ihr Asylverfahren durchgeführt wird.

"Das Problem an der Dublin-Regelung ist, dass von vergleichbaren Standards in Europa ausgegangen wird, die es faktisch nicht gibt"

Besteht die Gefahr, dass aufgrund des wachsenden Migrationsdrucks das Asylrecht in Deutschland ausgehöhlt wird und sich eine "Festung Deutschland" zur Abwehr von Asylsuchenden und Migranten bildet?

La Gro: Die Aushöhlung des Asylrechts in den 90er Jahren und die Einführung der Dublin-III-Verordnung auch auf Druck von Deutschland haben zu der derzeitigen Situation geführt. Die Chance, die Migration - auch in Form von Flucht - für die deutsche Gesellschaft darstellt, wird viel zu oft verkannt. Neben einzelnen Verbesserungen für bereits hier lebende Menschen baut auch Deutschland mit an einer "Festung Europa", die an den Außengrenzen Geflüchtete abwehrt, zurückdrängt und Aufnahme und Flüchtlingsschutz auslagern will.

Manche Kritiker lehnen das Kirchenasyl als eine "Aushöhlung des Rechtsstaats" ab: Wie werben Sie für mehr Verständnis gegenüber Asylsuchenden in der Gesellschaft?

La Gro: Den Rechtsstaat höhlen Kirchenasyle nicht aus. Sie verhelfen ihm zu einer sorgfältigen Prüfung anhand seiner eigenen Werte von Humanität. Wir argumentieren, ähnlich wie Pro Asyl, damit, dass jeder Mensch, jeder Einzelfall zählt. Und oft ist es auch so, dass die Schilderungen der Geflüchteten Skeptiker und Skeptikerinnen in den Gemeinden überzeugen können. Und im Endergebnis erhalten die allermeisten Menschen, die im Kirchenasyl geschützt wurden, später einen Schutzstatus, ein Bleiberecht in Deutschland.

Was ist anlässlich 40 Jahre Kirchenasyl geplant?

La Gro: Wir begehen das Jubiläum am 30. und 31. August in Berlin mit Gedenken, Diskussion und Feiern. Der 30. August ist der Todestag Cemal Kemal Altuns, der sich 1983 nach 13 Monaten Auslieferungshaft aus dem Gerichtssaal stürzte, um einer drohenden Abschiebung in die Türkei zu entgehen. Kurz nach seinem Tod bekam er ein Bleiberecht in der BRD zugesprochen. In der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg fand einige Monate nach Altuns Tod das erste Kirchenasyl statt.