Kulturwissenschaftler warnt vor digitalem Overkill

Stillleben analoge Fotografie
© epd-bild/akg-images/Elizaveta Becker
Was der Trend zur analogen Fotografie über den Social-Media-Verdruss junger Menschen aussagt, darüber spricht der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder.
Retro-Trend: Analoge Fotografie
Kulturwissenschaftler warnt vor digitalem Overkill
Sofortbildkameras und analoge Fotografie mit mechanischen Kameras und Rollfilmen sind wieder beliebt. Für den Regensburger Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder ist das mehr als ein Retro-Trend.

"Das Analoge ist auch ein Stück weit Zivilisationskritik, denn es ist ja immer auch Technologiekritik", sagt er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. Er spricht von einem "digitalen Overkill": Menschen sehnten sich danach, bleibende Werte im Hier und Jetzt zu schaffen und die Zeit festzuhalten.

epd: Auch junge Menschen nutzen ältere Technik wie Schallplattenspieler oder analoge Fotoapparate mit Rollfilm. Was steckt aus Ihrer kulturwissenschaftlichen Sicht dahinter?

Gunther Hirschfelder: Man kann das im Prinzip auf eine Formel bringen: digitaler Overkill. Aber das ist natürlich zu kurz gegriffen. Durch das Digitale haben wir das Gefühl für das Analoge verloren. Der Mensch hat ein Bedürfnis nach dem Analogen, er hat eine Sehnsucht nach Natur, Sonne, nach Berührungen von anderen Menschen. Wenn wir etwa eng mit einem Haustier zusammenleben, geht der Blutdruck runter und wir haben weitere positive psychosomatische Veränderungen. Wir haben eben auch bei der Kommunikation ein analoges Bedürfnis, weil das Digitale in der Summe irgendwie defizitär bleibt.

Was bedeutet das?

Hirschfelder: Der Mensch ist bislang nicht in der Lage, sich im Übermaß zu digitalisieren, nur bis zu einem gewissen Punkt. Dieser gewisse Punkt ist für viele junge Leute bereits jetzt erreicht. Wir haben viele jüngere Leute, die ihr Leben total asynchron führen. Man verabredet sich per Textnachricht oder telefoniert stundenlang zeitversetzt mit Sprachnachrichten. Treffen in Präsenz werden weniger. Wir haben viele Studierende mit psychischen Problemen, möglicherweise deutlich über ein Viertel. Das alles führt zu einer permanenten Entfremdungsspirale.

"Man verabredet sich per Textnachricht oder telefoniert stundenlang zeitversetzt mit Sprachnachrichten"

Inwiefern?

Hirschfelder: Die digitale Welt und unsere Optimierungs- und Ereignisgesellschaft haben dazu geführt, dass ich mich permanent wie auf einer abschüssigen Rampe fühle. Ich stürze meiner Vergänglichkeit entgegen - muss aber vorher noch so viel wie möglich optimieren, irgendwelche Dinge leisten. Das ist besonders schmerzlich, wenn ich keinen Trost durch eine Religion habe.

Wie kann Religion da helfen?

Hirschfelder: Relativierung durch eine Religion bedeutet ja, dass ich mich nicht mehr so wichtig nehme, sondern Erfüllung im Gemeinwohl oder dem Wohl von irgendjemand anders finde. Das Erleben von Gemeinschaft kann auch erfüllend sein.

Im Berufsleben ist man oft zur digitalen Kommunikation gezwungen, was hat das für Auswirkungen?

Hirschfelder: Ja, da kommen zum Beispiel auch die Zoom-Konferenzen hinzu. Wenn ich selbst länger an solchen digitalen Konferenzen teilnehme, bin auch ich danach emotional erschöpft.

"Relativierung durch eine Religion bedeutet ja, dass ich mich nicht mehr so wichtig nehme"

Wie entfliehen Menschen den digitalen Zwängen?

Hirschfelder: Es gibt Exit-Strategien, zum Beispiel im Bereich Sport. Wir haben diesen neuen Trend Eisschwimmen, wir haben bestimmte Extremsportarten, wenn etwa Leute mit Skiern unbefestigte Pisten runterfahren. Oder nehmen Sie Hochrisikosportarten wie bestimmte Formen des Mountainbikings, wo sich die Leute reihenweise die Schultern oder Knie oder sonst irgendwas brechen. Dieses extreme Risikoverhalten ist für mich nicht zuletzt ein Reflex auf diese Überdigitalisierung.

Gibt es auch verträglichere Formen eines analogen Lebensstils?

Hirschfelder: Ja, natürlich gibt es niedrigschwellige analoge Dinge, wie eben die analoge Musik oder eben auch die analoge Fotografie.

Was glauben Sie, was macht diese Techniken so attraktiv, gerade für Jüngere?

Hirschfelder: Einerseits hat das etwas mit Entschleunigung zu tun. Es ist die Sehnsucht, einen bleibenden Wert zu schaffen und die Zeit festzuhalten. Durch die analoge Tätigkeit ist man wieder im Hier. Es ist zudem eine Strategie der Selbstvergewisserung. Durch analoge Techniken, wie etwa auch das Kochen, merke ich, dass ich überhaupt da bin. Das spielt eine ganz große Rolle. Das spricht heute vor allem junge Menschen an, vom Schüleralter bis etwa Mitte 30.

"Durch analoge Techniken merke ich, dass ich überhaupt da bin" 

Gibt es noch weitere Aspekte, warum analoge Techniken offenbar guttun?

Hirschfelder: In der digitalen Welt verlieren wir oft die Expertise für viele Aspekte unserer engeren und weiteren Umwelt. Gefühlt gibt es immer eine Technik, die etwas besser machen kann als ich. Dadurch erfahren viele eine narzisstische Kränkung. Durch das Analoge kann ich mir meine Deutungshoheit zurückholen, kann auf einem bestimmten Gebiet Experte sein. Man hat die Dinge dann im wahrsten Sinne des Wortes wieder im Griff.

Und das gelingt, indem man beispielsweise einen analogen Fotoapparat benutzt?

Hirschfelder: Wenn ich jetzt theologisch argumentieren würde, dann würde ich sagen, die analoge Fotografie ist ein Wunsch nach Ewigkeit, nach Unvergänglichkeit. Diese Form der Fotografie holt uns gewissermaßen die Perspektive Ewigkeit zurück. Ich mache etwas, was den Augenblick festhält. Das ist ein anderer Umgang mit der Zeit. Ich halte quasi den analogen Augenblick auch analog fest.

Das Analoge ist auch ein Stück weit Zivilisationskritik, denn es ist ja immer auch Technologiekritik. Insofern ist natürlich auch das analoge Fotografieren eine Strategie des Protests, eine Kritik an der vorherrschenden Technologie. Aber man kann natürlich auch noch andere Dinge anführen: Ich versuche, die mir bekannte Welt in meinen Nahbereich zu holen. Und das ist die analoge Fotografie letztendlich, ein Zurückholen in den Nahbereich.