"Es ist fünf nach zwölf in der Pflege"

Kopfportrait vom Diakonievorstand Karl Schulz
© Rummelsberger Diakonie
Diakonievorstand Karl Schulz ist über die Lage des mangelnden Pflegepersonals in Deutschland alamiert.
Diakonievorstand schlägt Alarm
"Es ist fünf nach zwölf in der Pflege"
Die Suche nach Fachkräften treibt derzeit viele Branchen um - auch die sozialen Dienste und die Pflegebranche. Seit vielen Jahren sucht die Rummelsberger Diakonie in Bayern nach neuen Mitarbeitenden im Ausland - im Kosovo, in Spanien oder demnächst auf den Philippinen. Vorstand Karl Schulz beschäftigt dieses Thema, aber auch die Folgen der aktuellen Krisen und die gesellschaftliche Stabilität, wie er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagt.

Haben Sie kein schlechtes Gewissen, wenn Sie in anderen Nationen Fachkräfte anwerben?

Karl Schulz: Die Rummelsberger Diakonie hat über zehn Jahre Erfahrung in der Mitarbeiterfindung und der Bindung von ausländischen Fachkräften. Wir schauen genau hin, wo wir unsere Fühler ausstrecken. Zurzeit sind wir stark im Kosovo engagiert. Dort herrscht eine hohe Arbeitslosenquote von fast 50 Prozent, vorwiegend im Jugendbereich. Auch studierte junge Menschen sind ohne berufliche Perspektive. Wir arbeiten mit der Universität Pristina zusammen. Das ergibt also im besten Sinne eine Win-win-Situation und daher ein gutes Gewissen.

Sind auch andere Länder Ihre Partner?

Schulz: Den Anfang haben wir damals mit spanischen Fachkräften gemacht. Jetzt haben wir zusätzlich zu dem Engagement im Kosovo auch die Philippinen, weil auch dort viel über den eigenen Bedarf hinweg ausgebildet wird. Wir schauen sehr genau hin, halten uns an den globalen Verhaltenskodex der World Health Organization (WHO) und würden uns niemals dem ethischen Argument aussetzen, dass wir dort die Fachkräfte abziehen.

Die Philippinen, Spanier oder die Kosovaren - was bekommen die zurück?

Schulz: Wir sind in vielen Gesprächen mit diesen jungen Menschen. Sie suchen eine Perspektive. Es wird uns oft versichert, dass - sobald sich die Lage im eigenen Land entsprechend wieder stabilisiert oder besser darstellt - sie dann wieder in ihr Land zurückgehen würden. Wir brauchen diese internationalen Fachkräfte. Das steht außer Zweifel. In jedem Jahr werden dies etwa 400.000 Fachkräfte über alle Branchen hinweg sein, wenn wir unseren Lebensstandard aufrechterhalten wollen.

Was muss denn da an Rahmenbedingungen aus gesellschaftlicher oder politischer Sicht aus Ihrer Sicht geändert werden, damit man Fachkräfte leichter findet und leichter einstellt?

Schulz: Ich schicke voraus, dass wir die Suche nach Fachkräften komplett aus eigenen Mitteln stemmen. Unsere muttersprachlichen Fachleute reisen vor Ort und unterstützen unsere hoffentlich zukünftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Antragstellung für die Visa, bei der Übersetzung von Zeugnissen, bei der Vermittlung in Sprachunterricht. Wenn sie dann bei uns sind, werden sie entsprechend unterstützt bei der Wohnungssuche, bei den Gängen zu den Behörden. Wir tun all die Dinge, die für einen Menschen, der das erste Mal in Deutschland ist, fremd sind und mitunter auch nicht selbsterklärend. Helfen würde uns, wenn wir hier eine zentrale Anlaufstelle hätten, bei der alles erledigt werden könnte.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, genügend Fachkräfte für die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Es kann ja nicht nur Aufgabe eines Trägers sein. Da sind Politik und Staat mit im Boot, um das zu gewährleisten.

Eine zentrale Stelle - das hört sich wie ein frommer Traum an. Wenn man bedenkt, dass meistens viele verschiedene Ämter und Kostenträger Ihre Ansprechpartner sind...

Schulz: Wir wissen, dass das ein ganz dickes Brett ist. Aber es muss in die Köpfe rein. Deutschland konkurriert um diese Fachkräfte mit anderen Ländern. Diese sind attraktiver, weil es weniger kompliziert ist, dort die notwendigen Dinge zu regeln. Auch daran wird sich entscheiden, ob wir zukünftig genügend Fachkräfte haben werden. In der Altenpflege ist es jetzt schon schwierig bis unmöglich, Pflegekräfte zu finden. Daher hoffe ich hier auf die Politik.

Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland ist ja nicht die alleinige Antwort auf unseren Personalbedarf. Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten - aber es ist eine, die wir aus meiner Sicht sehr viel besser machen können.

Sie haben ja vorhin schon mal gesagt, "wenn wir die derzeitige Situation aufrechterhalten wollen". Das klingt so, als könnten wir sie nach Ihrer Meinung, nicht mehr lange aufrechterhalten. Was meinen Sie, geht zuerst verloren?

Schulz: Jetzt will ich ja nicht derjenige sein, der hier die Schreckgespenster malt.

Nun ja, aber was ist mit der Altenpflege?

Schulz: Der Veränderungsdruck, dem wir als Träger - und wir sind nur einer unter vielen - unterliegen, ist enorm. Alles, was mit der demografischen Entwicklung zu tun hat, die Herausforderungen und Veränderungen durch die Digitalisierung, die Klimaneutralität und so weiter. Das sind ja Dinge, die schon lange bekannt sind. Zusätzlich haben wir die Herausforderung eines Krieges, steigende Energiepreise, Covid, eine Regelungswut, die uns täglich über Gebühr beschäftigt.

Darüber hinaus gibt es heute schon Kitas, die schließen müssen oder ihre Öffnungszeiten reduzieren. Oder Einrichtungen befürchten, dass sie insolvent gehen. Bestehende Verträge im ambulanten Pflegebereich werden gekündigt, weil nicht genügend Mitarbeitende zur Verfügung stehen.

Was ist also zu tun?

Schulz: Das Problem ist, dass nichts passiert. Ich würde sagen, es ist schon fünf nach zwölf, aber jeder zieht sich in sein Schneckenhaus zurück und zeigt auf den anderen. Man muss da einfach mal ehrlich mit der Lage umgehen, wenn jeder seinen Aufgaben gerecht werden will - also Staat und Politik und wir im Subsidiaritätsprinzip als Träger. Es geht nur im Dialog.

Zurzeit habe ich das Gefühl: Es wird sehr viel bestellt von der Politik. 2025 soll überall Ganztagsbetreuung möglich sein, darauf besteht ein Rechtsanspruch. Wie soll das gehen? Mit wem? Mit welchen Mitteln? Mit welchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? In den nächsten Jahren fehlen genauso viele Erzieherinnen und Erzieher wie Fachkräfte in der Altenpflege.

Sie fordern jetzt einen "New Deal". Was soll das sein?

Schulz: Der Begriff kommt aus den 1930er Jahren, als es darum ging, in Amerika große Sozial- und Wirtschaftsreformen auf den Weg zu bringen. Ich sage New Deal, weil dadurch die Dimension klar wird. Es geht eben nicht mehr, dass wir wie immer an den Symptomen herumdoktern und ein kleines Reförmchen nach dem anderen anschieben. Sondern es geht darum, Strukturreformen anzugehen, die vielleicht wehtun und auch was kosten.

Der soziale Friede und die Stabilität der Gesellschaft sind ein hohes Gut und da müssen sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen. Anbieter, Leistungsträger, alle Akteure der Sozialwirtschaft und eben auch Politik. Und da offen und ehrlich die Dinge angehen. Im Bereich der Altenpflege gibt es schon gute und auch sehr differenzierte Vorschläge für die Zukunft. Man muss jetzt nur endlich den Mut haben.

Meinen Sie eine Strukturreform, die vielleicht wehtut, geht ein Jahr vor der Landtagswahl?

Schulz: Worauf sollen wir denn warten, wenn noch mehr Träger in die Schieflage geraten, wenn noch mehr Kitas geschlossen werden müssen? Wir Träger sind mit unseren Möglichkeiten nahezu am Ende.