"Es steht so viel auf dem Spiel"

Luiz Inacio Lula da Silva, winkt, indem er mit seinen Händen ein Herz formt.
© Fernando Souza/dpa
Hoffnungsträger: der Präsidentschaftskandidat der brasilianischen Arbeiterpartei und Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva im Wahlkampf.
Brasilien vor der Wahl
"Es steht so viel auf dem Spiel"
Wenn am 2. Oktober in Brasilien die erste Etappe zur Präsidentschaftswahl stattfindet, hoffen viele Brasilianer:innen, dass der Kandidat der Oppositionskoalition, Luiz Inácio Lula da Silva, bereits im ersten Wahlgang 50 Prozent erreicht. Die Erwartungen und das Vertrauen in Lula, der bereits einmal Präsident war, sind groß. Inácio Lemke, Präsident des brasilianischen Kirchenrats CONIC, beschreibt beinahe lyrisch die Stimmung im Land.

Es ist, als ob wir an einem neuen Morgen, einem Frühlingsmorgen, aufwachen würden. Auf der südlichen Hemisphäre beginnt jetzt der Frühling. Wo ich bin, ist die Morgendämmerung durch das Krähen der Hähne und Vögel gekennzeichnet, die die Stille der Nacht übertönen, die vergeht.

Ich wache langsam auf und versuche, mich auf diejenigen einzustimmen, die in dieser Stunde aufwachen und einen Moment der betenden und zuversichtlichen Wachsamkeit für sich selbst, für ihre Familie, für diejenigen, die leiden, weinen, träumen, für die Schwachen, die so sehr das Leben, das Brot des Friedens, die Gesundheit, das Glück und die Sicherheit brauchen. Ich bange mit ihnen und Millionen von Menschen in Brasilien, die in dieser Stunde mit Liebe, Energie und Hoffnung den demokratischen Weg in diesem Wahlkampf suchen. Dieser Wahlkampf, der so angespannt ist und von Interessen und Kleinigkeiten, Hassattacken, Lügen und moralischer Herabsetzung der Gegner:innen geprägt ist. Die vor allem gegen den anerkannten Führer in unserer Geschichte, Luiz Inácio Lula da Silva, gerichtet sind.

Jetzt kommt der Frühling! Möge die geheimnisvolle Gnade, die Kraft der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, diesem schönen und leidenden Teil des Planeten den Sieg der Wahrheit, der partizipativen Demokratie, des Dialogs und der Einheit aller Menschen bringen. Bürger und Bürgerinnen, Töchter und Söhne sollen wieder daran mitwirken können, alles, was unser Schicksal als brasilianisches Volk in dem Wunsch und dem Recht, glücklich zu sein, behindert, zu verändern. Die Menschen und die Natur wachen auf und schreien wieder nach Hoffnung, nach einem Land, in dem der Dialog erlaubt ist, ohne Angst, verfolgt und gehasst zu werden.

Die Menschen und die Natur schreien nach Hoffnung

Der 2. Oktober wird ein wichtiges Datum sein, um sich an die Seite der Schwächsten und Verletzlichsten zu stellen und sich im Vertrauen auf die Verheißung "Ich habe den Schrei meines Volkes gehört" für die Ärmsten einzusetzen (2. Mose 3.7). Als Mitgliedskirchen des Nationalen Rates Christlicher Kirchen Brasiliens (CONIC) engagieren wir uns für die Schwächeren in der Gesellschaft und für die Schöpfung als Ganzes. Gemeinsam schreien wir nach Gerechtigkeit, Frieden und der ganzheitlichen Bewahrung der Schöpfung.

Wir können nicht länger schweigen angesichts der barbarischen Zerstörungen, die in unserem Land in Bezug auf den Amazonas, das Pantanal-Feuchtgebiet und den atlantischen Wald stattfinden. Wir können nicht länger schweigen angesichts der Verfolgung und Hinrichtung von Anführer:innen der Ureinwohner:innen, Umweltschützer:innen, People of Colour, LGBTQIA-Personen…

Der Präsidentschaftskandidat der brasilianischen Arbeiterpartei, Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva (oben r.) hinter einer Fahne mit seinem Gesicht, während er von einem Balkon grüßt.

Hoffnung auf ein Ende der Korruption

Der derzeitige Präsident (Bolsonaro - Anmerkung der Redaktion) hat in seiner Antrittsrede vor vier Jahren angekündigt, dass er keinen Quadratmeter Land für indigene Völker ausweisen werde. Außerdem garantierte er der Elite der Agrarindustrie, dass er kein Gebiet für die Ansiedlung landloser Bauern ausweisen würde.

Was die Rechte der Arbeitnehmer:innen anbelangt, so versprach er seinen Verbündeten, die neoliberale Politik strikt zu verfolgen und die in den vergangenen Jahren mühsam erkämpften und in der brasilianischen Verfassung von 1988 garantierten Arbeitnehmer:innenrechte so weit wie möglich einzuschränken.

Seit Beginn seiner Regierung setzt er sich für eine rückständige brasilianische Elite ein, die politisch korrupt ist und vor allem für seine eigene Familie regiert, die seit langem mit kriminellen Milizen zu tun hat. Um sich einen Platz in der Regierung zu sichern, hat er pensionierte Militärangehörige in die Ministerien berufen, die ein Supergehalt erhalten. Wenn die föderale Polizei in Fällen von Korruption oder Kriminalität ermittelt, die ein Familienmitglied oder einen Freund betreffen könnten, werden die Ermittlungen eingestellt und der Beauftragte abgesetzt und durch einen anderen Beauftragten ersetzt, dem der Präsident vertraut.

Hoffnung auf ein Ende der Lügen

Während der Covid-19-Pandemie setzten sich der Präsident und seine Gesundheitsminister, die stets Militärs waren, lange Zeit gegen Impfstoffe und für den Einsatz von erwiesenermaßen unwirksamen Medikamenten ein. Während in vielen Ländern die Impfkampagnen vorankamen, wurden hier Witze gemacht und die Wirksamkeit ins Lächerliche gezogen. Sie sprachen sich auch gegen die obligatorische Verwendung von Masken und die Isolierung aus.

In den Orten, in denen die Gouverneure und Bürgermeister die Isolation und/oder den Lockdown angeordnet hatten, warben der Präsident und seine Verbündeten für Autokolonnen und behaupteten, Covid sei nichts weiter als "eine kleine Grippe". Derzeit sind in Brasilien mehr als 685.000 Todesfälle durch Covid-19 zu verzeichnen. Untersuchungen zufolge hätten 400.000 Todesfälle vermieden werden können, wenn wir die Richtlinien der Infektiolog:innen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) befolgt hätten. Hier ist anzumerken, dass die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, indigene und arme Bevölkerungsgruppen, die höchste Zahl von Todesfällen zu verzeichnen hatten.

Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man sagt, dass hier ein wahrer Völkermord stattgefunden hat, für den der Präsident und seine Gesundheitsminister, die sich als Leugner der Wissenschaft aufspielen, verantwortlich gemacht werden müssen.

Hoffnung auf ein Ende der Zerstörung

Einer der katastrophalsten Punkte der Regierung Bolsonaro ist die völlige Vernachlässigung der Umweltgesetze: völlige Freiheit für den Bergbau im Amazonasgebiet, auch in indigenen Gebieten, Eindringen in Waldreservate, Nationalparks, Flüsse und Mangroven, Verschmutzung der Wasserquellen mit Quecksilber und anderen gefährlichen Schadstoffen. Ebenso die vollständige Befreiung des Holzeinschlags in Sperr- und Schutzgebieten.

Das Abholzen und Abbrennen der Amazonaswälder geht weiter denn je, ebenso wie das Abholzen des Cerrado-Bioms für die Expansion der Agrarindustrie, vor allem für Monokulturen von Soja, Zuckerrohr, Mais und Rinderzucht. Hier besteht ein hohes Risiko eines klimatischen Ungleichgewichts, das bereits in Südamerika durch länger anhaltende Dürren und übermäßige Regenfälle in anderen Regionen spürbar ist.

Monat für Monat werden wir in den Medien mit Statistiken über rekordverdächtige Brände und die Zerstörung Amazoniens konfrontiert. Der Amazonas sollte aber aufgrund seiner reichen biologischen Vielfalt als ein Erbe der gesamten Menschheit betrachtet werden. Die Biome Cerrado und Pantanal, in denen die großen Flüsse und Quellen Südamerikas entspringen, sollten ebenfalls bewahrt werden. Denn wenn wir sie nicht rigoros schützen, werden wir in einigen Jahren große Wüsten auf dem südamerikanischen Kontinent verzeichnen.

Nicht nur ein Traum

Nun komme ich zu der Frage: Was erhoffen wir uns von den nächsten Wahlen im Oktober hier in Brasilien und was kann sich ändern? Unsere große Hoffnung – und das ist nicht nur ein Traum – ist, dass die Opposition am 2. Oktober gewinnen wird. Wir wollen wieder die Luft der Freiheit und der Sicherheit atmen. Wir wollen, dass die 33 Millionen Brasilianer:innen, die derzeit von Armut bedroht sind und keine Garantie für eine angemessene Ernährung haben, wieder die Gewissheit erleben, dass sie dreimal am Tag etwas zu essen haben und nicht in Mülltonnen wühlen müssen, um sich zu ernähren.

Wir wünschen uns, dass Gesundheit wieder ein Recht für alle Menschen ist. Mögen die Impfkampagnen motiviert und die Wissenschaft respektiert werden. Mögen die Schulen wieder ein Ort des wissenschaftlichen und kulturellen Lernens für alle Menschen sein. Wir hoffen, dass den indigenen Völkern ihre Territorien garantiert und respektiert werden; dass Kleinbauernfamilien Land für den Anbau von Nahrungsmitteln und eine sichere Unterkunft erhalten. Wir hoffen, dass die Umweltgesetze in den verschiedenen Biomen eingehalten und Verstöße gegen sie geahndet werden, damit wir die zerstörten Gebiete wiederherstellen können. Mögen die Vögel und die Natur von einer neuen Zeit des Lebens und des guten Miteinanders singen. Wir hoffen – denn es steht so viel auf dem Spiel.

evangelisch.de dankt seinem Kooperationspartner Evangelische Mission Weltweit e.V.  für den redaktionellen Inhalt.