"Gemeinsamer Feind ist der liberale Westen"

Porträt eines ausgezeichneten russischen Offiziers auf einem Plakat in St. Petersburg
© Dmitri Lovetsky/AP/dpa/evangelisch.de (M)
Auf diesem Plakat in St. Petersburg sieht man das Porträt eines russischen Offiziers, der für seinen Einsatz in der Ukraine ausgezeichnet wurde. Man darf die Soldaten, ihre Taten und die Spezialoperation im Ganzen nicht negativ beurteilen, berichtet die Studentin Anna aus Russland.
Eine Stimme aus Russland
"Gemeinsamer Feind ist der liberale Westen"
Anna* kommt aus Russland und ist Studentin. Sie hat einen engen Bezug zu Europa. Umso mehr hat sie der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert. Auf evangelisch.de berichtet sie regelmäßig von ihren Eindrücken und Erlebnissen.

Der Konflikt in der Ukraine dauert seit mehr als sechs Monaten an. Da sich die Lage an der Front stabilisiert hat, gibt es nicht so viele Nachrichten. Aber auch wenn es sie gäbe, dürfte ich nicht davon erzählen. Die russische Regierung hat zwei Gesetze geschaffen, die jede pazifistische Aktivität zum Verbrechen machen.

Das erste betrifft die Verbreitung von Fake-News, in der Tat aller Nachrichten, die der offiziellen Position der Regierung nicht entsprechen. Das zweite ist über die "Diskreditierung der Armee": Man darf die Soldaten, ihre Taten und die Spezialoperation allgemein nicht negativ beurteilen. Auch wenn man das Wort "Krieg" sagt. Darüber hinaus gab es einen Fall, als eine Person verklagt wurde, weil sie "die sogenannte" Sonderoperation geschrieben hatte - weil dieses Wort "sogenannte" angeblich ihre negative Einstellung zu dem zeigt, was passiert.

Heute möchte ich deswegen davon reden, was vom ersten Blick mit dem Ukraine-Konflikt nicht verbunden ist, nämlich von den Gesetzesentwürfen, die "traditionelle russische Werte" schützen müssten.

Im modernen Russland gibt es keine Ideologie. Ja, bei der heutigen Autokratie klingt es fast unglaublich, aber es ist wahr. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Russland eine moderne Demokratie, wo es keine leitende Partei und keine vorherrschende Weltanschauung geben darf. Und gesetzlich ist es auch heute so. Aber natürlich wollte ein Autokrat wie Putin Unterstützung des ganzen Volkes bekommen, er suchte lange nach einer Idee, die der Mehrheit gefällt, aber nicht wie eine politische Ideologie aussieht. Und so ist man auf die Idee "traditioneller Werte" gekommen. 

Was sind eigentlich "traditionelle Werte?" Das weiß niemand. In Russland leben viele ethnische und religiöse Gruppen und jede hat ihre eigenen Traditionen, die sich stark voneinander unterscheiden. Deswegen ist es Quatsch - aus einer anthropologischen Sicht. Aber nicht von einer ideologischen. Um die Menschen zu vereinen, versucht die Regierung, eine Figur eines gemeinsamen Feindes zu schaffen. Dieser Feind ist natürlich der "liberale Westen", der mit seinen "unchristlichen" und "pervertierten" Ideen die alte europäische Kultur vernichtet und auch Russland demoralisiert. Für die Leute, die in Europa oder in den USA wohnen, kann es, unter Berücksichtigung aller öffentlichen Diskussionen, komisch erscheinen. Angesichts der Anzahl religiös-fundamentalistischer Bewegungen in Amerika zum Beispiel, kann man gar nicht sagen, dass das der liberalste Ort in der Welt ist. Aber ein durchschnittlicher Russe war nie in Amerika. Es ist schön, wenn er/sie überhaupt mal im Ausland war – am Strand in der Türkei oder bei Verwandten in Lettland. Die meisten Leute haben keine Ahnung, was wirklich im "Westen" passiert. Sie wissen nur das, was man im Fernsehen erzählt: dass LGBT+-Paare schlechte Eltern seien, dass Feministinnen Männer aggressiv behandelten, und Afroamerikaner weiße Europäer unterdrückten.

Diese Quasi-Ideologie ist ein Versuch, Menschen zu trennen. Denn wenn Russland als eine Art Arche Noah dargestellt wird, auf der die konservative Menschheit gerettet wird, rufen die Über-Bord-Gegangenen weder Sympathie noch Mitleid hervor. Und so wird alles, was den "liberalen westlichen Ideen" nicht entspricht automatisch gut und "traditionell". In erster Linie betrifft es die Themen Sexualität und Familie.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche beteiligt sich aktiv am Kampf für "traditionelle Werte". Umso amüsanter ist es zu verstehen, dass Homophobie in Russland keineswegs mit einem konservativen christlichen Weltbild zusammenhängt, sondern mit einer Gefängniskultur, die sich während der Sowjetzeit stark verbreitet hat. Schwul zu sein, ist in der Gefängnishierarchie eine Schande. Und da ein großer Teil der Sowjetbevölkerung entweder im Gefängnis war oder mit ehemaligen Häftlingen sprach, sind diese Ideen allgegenwärtig.

In den letzten Monaten plant die russische Regierung, zwei skandalöse Gesetze zu erlassen – ein Verbot jeglicher LGBT+-Propaganda und die Streichung von Abtreibungen aus der Krankenversicherungspflicht. Der Staat braucht Menschen, deshalb ist er vor allem daran interessiert, dass möglichst viele heterosexuelle Familien möglichst viele Kinder zur Welt bringen. Was, wenn die Schwangerschaft nicht gewünscht war? Kein Problem, die Frau kann ihr Kind dem Staat geben – ja, buchstäblich: Das sagen viele Männer aus der Regierung und der Kirche. 

Wie ist dieses Thema mit dem Ukraine-Konflikt verbunden? Ganz einfach. Die Ukraine wollte nach Europa, deswegen waren dort traditionelle Werte in Gefahr. Seit 2014 zeigt das Fernsehen Aufnahmen von Pride-Partys in Kiew und seit Beginn des Konflikts Abteilungen schwuler Soldaten, die angeblich einander sexuell missbrauchten. Solche Materialien sind ein Versuch zu zeigen, dass die Spezialoperation keine Okkupation ist, sondern die Rettung der Ukrainer vor der "Regenbogenpest" und "dem schädlichen Einfluss des verfallenden Westens". So eine Ideologie im ideologiefreien Staat…

*Anna heißt eigentlich anders. Zu ihrem Schutz hat die Redaktion ihren Namen geändert.