"Putins Propaganda zerstört alles Menschliche"

Vladimir Putin im Fernseher, zwei Personen schauen es an.
© Denis Kaminev/AP/dpa
Menschen aus den Regionen Donezk und Luhansk verfolgen eine Fernsehansprache des russischen Präsidenten Putin.
Eine Stimme aus Russland
"Putins Propaganda zerstört alles Menschliche"
Anna* kommt aus Russland und ist Studentin. Sie hat einen engen Bezug zu Europa. Umso mehr hat sie der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert. Auf evangelisch.de berichtet sie regelmäßig von ihren Eindrücken und Erlebnissen.

Mein Bruder wohnt jetzt bei den Verwandten in einer anderen Stadt. Vor kurzem hat er mich angerufen: "Mensch, ich kann nicht mehr! Sie sind verrückt!" - "Wer?" - "Die Großeltern!" – er machte eine kurze Pause. "Opa hat gesagt, ich bin ein Nationalverräter. Er möchte mit mir deswegen nicht mehr sprechen. " - "Oh Gott! Was hast du…" Er lachte, aber nicht lustig.

"Wir guckten uns eine politische Talk-Show an, und ein Kerl dort fragte: Wie könnte Russland heutige Probleme lösen? Ich sagte dem Bildschirm, dass es vielleicht sinnvoll wäre, diese verbrecherische Aggression zu stoppen. Logisch, oder? Opa war wütend. Er glaubt, dieser Krieg sei genauso 'heilig' wie der Große Vaterländische Krieg, weil Russland sich vor der ganzen Welt schütze… Bleibe am besten zu Hause, du wirst es nicht ertragen!"

Unsere Großeltern wurden während des Zweiten Weltkriegs geboren. Sie erinnern sich gut an die Regierung von Stalin. Als er starb, wollten sie seine Beerdigung besuchen, aber es hat nicht geklappt: beide waren damals zu klein.

In meiner Familie gab es Menschen, die unter Repressionen litten. Auch meine Großeltern fanden es damals schrecklich. Aber jetzt, da die sowjetische Zeit eine historische Vergangenheit ist, haben sie für sich eine Erklärung gefunden: Sie glauben, Stalin war nicht ein blutiger Diktator, sondern ein "effektiver Manager".

Sie haben einen neuen Stalin gefunden

Ja, es gab Repressionen, aber ein Mensch, der den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, konnte nicht fehlen. Alles hatte für ihn einen Sinn, auch dieses Blutvergießen. Der Staat wusste es besser. Unnötig zu erwähnen, dass Nikita Chruschtschow, der den Stalin-Kult entlarvte, in ihren Augen ein dummer und neidischer Ukrainer war.

Früher, als Russland ein bisschen freier und progressiver war, waren die Großeltern nicht so radikal. Sie haben gezweifelt. Ja, sie haben sogar den Staat kritisiert, für kleine Renten und schmutzige Straßen. Aber in den letzten Jahren sind sie wieder in ihre Kindheit zurückgekehrt – sie haben einen neuen Stalin gefunden, eine väterliche Figur, die alles weiß und alles richtig macht.

Der Weltkriegs-Kult ist eine staatliche Religion

Es ist verständlich und bequem für sie, weil sie so erzogen wurden. Aber wie viele Menschen mit dem sowjetischen Background gibt es noch in Russland?

Am 9. Mai hat mich meine Oma angerufen. "Hast du die Parade auf dem Roten Platz gesehen?" - "Nein, ich mag es nicht. Es ist immer so kitschig!" - "Du sollst es doch gucken! Das musst du wissen! Das ist ein heiliger Tag für uns alle!" Ein heiliger Tag… Ich habe ihr höflich-neutral geantwortet und mein Handy ausgeschaltet.

Ein heiliger Tag, ein heiliger Krieg. Das ist eine andere Religion, nicht die, zu der ich gehöre. Ja, der Kult des Zweiten Weltkrieges ist eine echte staatliche Religion im heutigen Russland. Es gibt hier Heilige (Stalin, Georgi Schukow), es gibt Tempel (Museen und Friedhöfe), es gibt Rituale und Symbole (z. B. schwarz-orange Bänder). Jedes Jahr gibt es mehr und mehr kleine Kinder in sowjetischer Uniform, es wird immer prächtiger gefeiert.

Es wird viel über Atomkrieg geredet

Und jeder, der nicht zu dieser Religion gehört, ist ein Außenseiter, ein Nationalverräter. Vielleicht auch ein "Nazi", der nicht glücklich über den heiligen Sieg ist. Und was muss man mit den "Nazis" machen?...

Putins Propaganda zerstört alles Menschliche, was wir haben. Sie bricht Verbindungen in Familien ab: meine Großeltern sind nicht bereit, mit den "politisch unkorrekten" Enkeln zu reden. Menschlicher Kontakt ist für sie nicht so wichtig wie staatliche Ideale, wie die Angehörigkeit zum Sieges-Kult.

Im Fernsehen wird in der letzten Zeit viel über Atomkrieg geredet. Dass Russland keine Wahl hat, dass Menschen in Amerika und Europa überhaupt keine Menschen mehr sind: "Nazis, Homosexuelle, Liberale…" Viele Leute hören das und sie glauben daran. Ich habe den Eindruck, als ob sie blind wären und gar nicht bemerken, wohin man sie führt. Gott gebe ihnen wieder die Fähigkeit zu sehen, bevor es zu spät ist.

*Anna heißt eigentlich anders. Zu ihrem Schutz hat die Redaktion ihren Namen geändert.