TV-Tipp: "Decision Game"

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6. September, Neo, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Decision Game"
Schon zweiteilige Fernsehfilme scheitern oft daran, die Spannung über 180 Minuten hochzuhalten; kein Wunder, dass Miniserien mit ihrer Sendedauer von rund 270 Minuten fast immer Längen haben. Umso eindrucksvoller ist die Leistung von Benjamin Pfohl.

Sein Regiedebüt nach einigen Kurz- und Werbefilmen bietet ohne Übertreibung Hochspannung von der ersten bis zur letzten Minute. Das mag zunächst nicht weiter verwundern, Dreh- und Angelpunkt von "Decision Game" ist schließlich eine Entführung, aber Pfohl und Drehbuchautor Johannes Lackner ist ein echtes Kunststück gelungen: Der Thriller spielt im Versicherungsmilieu, die Hauptfigur ist eine Risikoanalystin. Die entsprechenden ökonomischen und volkswirtschaftlichen Hintergründe sind äußerst komplex, müssen aber erklärt werden, weil sie im Zusammenhang mit der Entführung eine entscheidende Rolle spielen. Wie es gelungen ist, die entsprechenden Informationen beiläufig und verständlich in die Handlung zu integrieren, ist beeindruckend; in dieser Hinsicht kann sich "Decision Game" durchaus mit der vielfach preisgekrönten ZDF-Serie "Bad Banks" messen. 

Ungleich entscheidender ist jedoch der Entwurf der zentralen Rolle: Vera Schröder (Eva Meckbach) hat vor einigen Jahren eine ihrer beiden Töchter beim Klettern verloren. Kurze Rückblenden verdeutlichen das traumatische Ausmaß dieses Ereignisses: An jeder Hand hing ein Mädchen; eins konnte sie nicht halten. Als Elsa (Paula Hartmann) entführt wird, kehrt das Trauma mit voller Wucht zurück. Trotzdem versucht die hochbegabte Mathematikerin, kühlen Kopf zu bewahren und das Risiko zu analysieren. Daraus resultiert der eigentliche Reiz der sechsteiligen Serie, darauf spielt auch der Titel ("Entscheidungsspiel") an, denn nun entwickelt sich ein ständiges Hin und Her zwischen der Mutter und Robert (Roeland Wiesnekker), dem Kopf des Kidnapper-Trios: Wenn Vera die Forderung der Entführer erfüllt, hat sie dennoch keinerlei Garantie, dass Elsa freigelassen wird, zumal die Männer wissen, dass das Mädchen einen von ihnen gesehen hat. Neben der emotionalen Identifikation mit der Mutter ist dies der größte Spannungsfaktor der Serie: weil sich Vera und Robert ständig aufeinander zu und dann wieder voneinander weg bewegen. Parallel dazu sucht der Vater fieberhaft nach Hinweisen auf die Entführer. Alex (Shenja Lacher) ist Polizist, was die Sache nur scheinbar einfacher macht, denn er muss gleichzeitig verhindern, dass sein Partner misstrauisch wird. Reiner (Aljoscha Stadelmann) ist jedoch nicht nur sein bester Freund, sondern auch Elsas Patenonkel, und natürlich bekommt er mit, dass irgendwas nicht stimmt. 

Neben der Handlung sorgt vor allem Eva Meckbach dafür, dass "Decision Game" so fesselnd ist. Ähnlich wie zuletzt in "Die Luft zum Atmen" (als Schauspielerin mit Mukoviszidose) bespielt sie das ganze Spektrum zwischen Verzweiflung und Trotz. Die eigentliche Herausforderung ihrer Rolle besteht jedoch in der Gratwanderung zwischen Kontrolle und Kontrollverlust: Vermutlich hatte Vera die Dinge schon vor dem Tod von Tochter Sophie gern im Griff; seither jedoch grenzt ihre Aufsicht über Elsa an Überwachung, Tracking-Software auf dem Smartphone inklusive, was Lackner für einen beinahe witzigen Exkurs nutzt, als Vera rausfindet, dass die 17-Jährige ihr Telefon einem Obdachlosen (Waldemar Kobus) überlässt, wenn sie mal "frei" haben will. Eine ähnlich faszinierende Figur ist Veras früherer Professor Thalmann (Robert Hunger-Bühler), mit dem sie auf Basis der Spieltheorie bis hin zur gegenseitigen Vernichtung allerlei Analogien zum Kalten Krieg durchdenkt, um Entscheidungssituationen wie etwa das Konzept des nicht-kooperativen Verhandlungsgleichgewichts zu simulieren. Diese Fachsimpeleien, auch mal bei hoher Geschwindigkeit im Auto geführt, weil der Mentor das Eskalationspotenzial einer schiefen Ebene verdeutlichen will, bereichern die Handlung um eine sehr ungewöhnliche Dimension, zumal ihr der Professor schließlich das entscheidende letzte Puzzlestück liefert. 

Gerade angesichts der Überschaubarkeit von Pfohls bisherigem Schaffen ist die Intensität der Umsetzung umso beachtlicher: Bildgestaltung und Schnitt haben im Zusammenspiel mit der Musik enormen Anteil an der Sogwirkung der Serie. Die dynamische Kamera (Martin L. Ludwig) weicht Vera nicht von der Seite und übernimmt inklusive LSD-Trip ihren jeweiligen Gemütszustand; die elektronische Musik (Anna Kühlein) verbreitet permanentes Unbehagen. Aber selbst bei einer weniger bemerkenswerten Regiearbeit wäre "Decision Game" ein herausragender Krimi, denn Lackner, bislang vor allem Serienautor, sorgt regelmäßig für unerwartete Wendungen. Zunächst scheint die Entführung nichts Persönliches zu sein: Vera soll die Kennzahl für die Risikoeinschätzung von Burundi erhöhen. Diese Zahl beziffert das Versicherungsrisiko. Für Vera ist das bloß ein Tastendruck, aber einen ohnehin labilen Staat kann der Klick ins Chaos stürzen. Die Motive der Gangster bleiben lange unklar. Schließlich stellt sich jedoch heraus, dass es bei dem Verbrechen keineswegs bloß um ein Geschäft, sondern auch um eine Revanche geht; und Rache ist nicht verhandelbar. Außerdem sind die Täter erschreckend gut informiert, offenbar arbeiten sie mit einer Person aus Vera engstem Umfeld zusammen; selbst Ehemann Alex hütet ein düsteres Geheimnis. Neo zeigt die Serie heute und morgen, alle Folgen stehen in der ZDF-Mediathek.