TV-Tipp: Tatort: "Der Mann, der lügt"

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30. August, WDR, 20.15 Uhr
TV-Tipp: Tatort: "Der Mann, der lügt"
Der "Tatort" aus Stuttgart, bietet eine klassische Krimihandlung: Nach der Ermordung eines Anlageberaters sucht die Polizei den oder die Täter im Kreis seiner Kunden, denn der Mann hat einige Menschen um viel Geld gebracht.

Es dauert allerdings eine Weile, bis Martin Eigler (auch Regie) und Sönke Lars Neuwöhner preisgeben, worum’s wirklich geht. Die beiden Autoren mögen zwar eine gewöhnliche Geschichte erzählen, aber sie tun das auf unkonventionelle Weise: Zentrale Figuren sind nicht die Ermittler Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare), sondern die Titelfigur. Dass sich ein Krimi aus Sicht des Täters ereignet, ist im "Tatort" mittlerweile zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Eigler und Neuwöhner, die schon öfter zusammengearbeitet haben (etwa beim "Lissabon-Krimi", davor unter anderem bei dem sehenswerter Stuttgarter Knastkrimi "Freigang", 2014), wählen jedoch einen anderen Ansatz: Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey) führt das Leben eines unbescholtenen Bürgers. Als ihn eines Morgens die Kriminalpolizei an seinem Arbeitsplatz erwartet, scheint es sich um reine Routine zu handeln, denn sein Name stand im Kalender des Opfers; offenbar waren die beiden zur Tatzeit miteinander verabredet. Gregorowicz versichert jedoch, er habe den Mann seit zwei Jahren nicht gesehen. Doch was zunächst so wirkt, als sei die Sache für ihn damit erledigt, ist in Wirklichkeit die erste von vielen Unwahrheiten, die am Ende einen Sumpf ergeben, in dem Gregorowiczs komplettes Dasein versinkt. Tatsächlich hat er den Vermögensberater nicht nur regelmäßig getroffen, er hat durch den Mann auch 200.000 Euro verloren. 

Es wäre etwas übertrieben, "Der Mann, der lügt" für eine völlig neue Erzählweise zu loben, aber es ist schon recht untypisch, das Stamm-Ensemble zu Nebenfiguren zu degradieren; Staatsanwältin Alvarez (Carolina Vera) und Kriminaltechnikerin Nika Banovic (Mimi Fiedler) haben jeweils bloß ein oder zwei kurze Auftritte. Auch die beiden Kommissare werden ausschließlich so geschildert, wie der sich in immer größere Widersprüche verwickelnde Verdächtige sie erlebt. Eine Ausnahme macht der Film einzig bei seiner Frau Katharina (Britta Hammelstein), indem er in kurzen Einschüben auch mal ihre Perspektive übernimmt; ansonsten bleibt die Kamera ausschließlich bei Gregorowicz. Das ist auch deshalb mutig, weil der Österreicher Manuel Rubey zwar ein ausgezeichneter Schauspieler ist, hierzulande aber nicht zur ersten Riege der üblichen TV-Stars gehört. Dass er einen Film tragen kann, hatte er allerdings schon einige Male bewiesen, etwa in der platonischen Liebesgeschichte "Seit du da bist" (2016, mit Martina Gedeck) oder als Ermittler in dem ORF-Landkrimi "Drachenjungfrau" (2016). Als "Mann, der lügt" erweist sich Rubey des Vertrauens der SWR-Redaktion mehr als würdig: Je tiefer Gregorowicz in seinem ganz persönlichen Sumpf versinkt, umso stärker verfällt seine johnnydepphaftige Jungenhaftigkeit. Das hat natürlich auch mit dem Maskenbild zu tun, aber Rubey versieht den Mann zudem mit entsprechender Körpersprache. Als es kein Zurück mehr gibt, sieht Gregorowicz aus, als raffe ihn eine unheilbare Krankheit dahin; Rubey muss sehr glücklich gewesen sein, als ihm diese Rolle angeboten wurde. Ebenfalls eine interessante Figur ist der Schwager des Mannes: Auch sein sympathisches Schwäbeln kann nicht verbergen, dass Moritz Ullmann ein knallharter Jurist ist; Hans Löw spielt den Anwalt unangenehm glaubwürdig. Das Besondere an dieser Rolle ist jedoch die Behinderung, oder richtiger gesagt: die Tatsache, dass sie überhaupt nicht thematisiert wird; der Mann sitzt eben im Rollstuhl. 

Bildgestalterisch fällt dieser insgesamt 22. Fall für Lannert und Bootz, mit dem der SWR 2018 das Zehnjährige des Duos Müller/Klare begangen hat, zwar nicht weiter aus dem Rahmen, aber es gibt dennoch immer wieder Details, die belegen, wie sorgfältig Buch und Regie den Film durchdacht haben. Der Prolog mit der ersten Befragung endet mit dem Titel, und Kameramann Andreas Schäfauer lässt mit einer einfachen Einstellung keinen Zweifel daran, auf wen sich "Der Mann, der lügt" bezieht. Später leidet Gregorowicz zunehmend unter Wahrnehmungsbeeinträchtigungen; ein simpler, aber wirkungsvoller Hinweis auf den immer stärker werdenden Druck. Hinzu kommen regelmäßige optisch verfremdete und mit dissonanter Musik unterlegte gewalthaltige Szenen, bei denen offen bleibt, ob es sich um Visionen, Albträume oder Erinnerungen handelt. Mindestens so faszinierend wie diese Erzählweise ist es jedoch, Lannert und Bootz mal ganz anders zu erleben: Für den Verdächtigen sind sie natürlich Fremde, die zu Feinden werden, weil ihre bohrenden Fragen dafür sorgen, dass sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zieht. Eigler und Neuwöhner präsentieren die Polizisten daher frei von allen persönlichen Details: Es gibt keine Frotzeleien oder andere private Momente. Die beiden spielen zwar während einer zermürbenden Vernehmung "Guter Bulle, böser Bulle", werden aber als korrekte, sogar etwas steife und daher undurchschaubare Beamte präsentiert. Auch wenn das Ende eher ein Auslaufen als ein dramatisches Finale ist: "Der Mann, der lügt" setzt eine bemerkenswerte Serie von thematisch und erzählerisch immer wieder überraschenden SWR-Krimis fort.