TV-Tipp: "37 Grad: Ich bin viele"

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2. August, ZDF, 22.15 Uhr
TV-Tipp: "37 Grad: Ich bin viele"
Vom kleinen Kind bis zur verschlagenen Frau - Sabrina lebt mit nicht weniger als zwölf Identitäten. Die Reportage gibt Einblick in ein Leben mit "Dissoziativer Identitätsstörung" und zeigt - Sabrina ist kein Einzelfall.

Natürlich sind knapp dreißig Minuten viel zu wenig Sendezeit, um zwölf Personen gerecht zu werden. Und doch geht es in dieser faszinierenden Reportage nur um eine Frau. Das Thema erinnert an den Titel von Richard David Prechts Philosophie-Bestseller "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?": Bei Sabrina ist vor geraumer Zeit die Diagnose "Dissoziative Identitätsstörung" gestellt worden.

Im Körper der 42jährigen Frau leben zwölf unterschiedliche Persönlichkeiten, die alle den gleichen Namen tragen. Ein Wechsel kann jederzeit abrupt und ohne jede Vorwarnungen erfolgen: Gerade noch war sie eine Frau, mit der sich die Autorin Julia Luhnau ganz normal unterhalten konnte, aber urplötzlich verwandelt sie sich in eine Vierjährige, für die es ein großes Abenteuer ist, allein über die Straße zum Kiosk zu gehen und sich eine Kinderzeitschrift zu kaufen.

Die äußere Hülle entspricht nach wie vor einer Erwachsenen, aber Motorik, Mimik und Sprache sind die eines kleinen Kindes. Der Effekt ist derart verblüffend, dass sich Teile des Publikums womöglich fragen werden, ob das wirklich alles mit rechten Dingen zugehe.

Die filmische Begegnung mit besonderen oder gar außergewöhnlichen Menschen ist das große Plus der ZDF-Reihe "37 Grad". Das Manko vieler Beiträge ist die Konzentration aufs Individuum. Nur selten treten die Autorinnen und Autoren einen Schritt zurück, um zu verdeutlichen, dass es sich keineswegs um Einzelfälle handelt.

Diesen Fehler begeht Luhnau zum Glück nicht: Allein in Deutschland lebten 830.000 Menschen mit einer ähnlichen Diagnose wie Sabrina, heißt es im Kommentar. Ein renommierter Psychiater erklärt das Krankheitsbild, das früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt war: Ursache seien zumeist schwere traumatische Kindheitserfahrungen. Um nicht ständig mit diesen Erlebnissen konfrontiert zu werden, spalte sich die Persönlichkeit auf; das Ereignis sei auf diese Weise gewissermaßen jemand anderem zugestoßen.

Was die Frau konkret erlebt hat, möchte sie nicht erzählen; sie spricht von "emotionalem, körperlichem und sexuellem Missbrauch". Die Ergänzung des Kommentars klingt nach Sekte: Sabrina sei in einer abgeschottet Religionswelt aufgewachsen; dort sei es verpönt gewesen, Gefühle zu zeigen. Sie selbst veranschaulicht ihre Psyche mit dem Bild eines Hauses, das sie für die Kamera zeichnet.

Im Keller leben die Sabrinas, die zum Teil erheblich traumatisiert sind. Eine ist stark verängstigt und macht sich klein, eine andere wirkt gefährlich. Dieser potenziell selbstzerstörerische Teil ihrer Persönlichkeit taucht mittlerweile zum Glück nur noch selten auf. Vermutlich nicht zuletzt aus Gründen des Selbstschutzes sind die verschiedenen Persönlichkeitszustände strikt voneinander getrennt. Von den anderen wissen sie nur durch die Menschen, die Sabrina betreuen. Trotzdem gibt es einen witzigen indirekten Kontakt: Die vierjährige Sabrina will nicht, dass ihre Älteren Alter Egos rauchen, und versteckt deshalb regelmäßig Tabak und Feuerzeuge.

Ähnlich aufschlussreich wie die Aussagen des Psychiaters ist ein Wiedersehen Sabrinas mit der Psychotherapeutin, die vor zwanzig Jahren die Persönlichkeitsstörung diagnostiziert hat. Die Patientin hat damals unter rätselhaften Depressionen und Essstörungen gelitten. Die Ärztin erinnert sich an ihre eigene Verblüffung, als sie es plötzlich mit einem kleinen Kind zu hatte.

Sie zeigt ein Plakat, das sie damals gemeinsam mit Sabrina gestaltet hat. Darauf dokumentieren verschiedene Fotos die unterschiedlichen Zustände: Eins zeigt eine sehr brave und buchstäblich zugeknöpfte Frau, auf einem anderen ist Sabrina sexy gekleidet und wirkt sehr extrovertiert. Es sei ganz normal, ergänzt der Psychiater, dass Menschen mehrere Persönlichkeitsfacetten hätten: Samstags verkleide man sich und gehe ins Stadion, um seinen Verein anzufeuern, montags sei man wieder braver Finanzbeamter.

Der Unterschied sei jedoch, dass man diese Facetten bewusst wähle. Die erwachsene Sabrina hingegen erlebt den Wechsel wie einen Blackout, sie hat keinerlei Erinnerung an das, was zum Beispiel das kleine Mädchen erlebt.

Für die Klammer des Films hat Luhnau eine Allegorie gefunden, die die Krankheit perfekt illustriert: Der Auftakt zeigt die Protagonistin mit mehreren Spiegeln, die so arrangiert worden sind, dass ganz viele Sabrinas zu sehen sind. Im Schlussbild lächelt sie ihr Ebenbild in einer Spiegelscherbe an. Das passt zur Diagnose ihrer früheren Psychotherapeutin, die den einstigen Schützling auf dem Weg zu einem erfüllten Leben sieht.