"Du sollst auch deine Feinde verstehen"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht hinter einem Pult vor Publikum
© epd-bild/Andrea Enderlein
Steinmeier äußerte sich tief betroffen über den russischen Angriff auf die Ukraine. "Die vielen Menschenleben, die dieser Überfall kostet, das Leid und die Zerstörung, die er mit sich bringt, all das erschüttert uns bis ins Mark", sagte er.
Steinmeier: Demokratie stärken
"Du sollst auch deine Feinde verstehen"
Der russische Angriff auf die Ukraine gilt auch als Attacke auf die Demokratie. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diskutierte mit Wissenschaftlern und Schriftstellern Wege, diese Regierungsform zu stärken.

Steinmeier äußerte sich tief betroffen über den russischen Angriff auf die Ukraine. "Die vielen Menschenleben, die dieser Überfall kostet, das Leid und die Zerstörung, die er mit sich bringt, all das erschüttert uns bis ins Mark", sagte er am Freitag beim "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" in Berlin. Der Kampf der Ukrainer habe vor Augen geführt, dass "Freiheit und Demokratie nicht auf ewig garantiert sind, dass sie heute wieder bekämpft werden, auch weil Autokratien sich von Offenheit bedroht fühlen".

Im Gespräch mit Wissenschaftlern und Publizisten suchte der Bundespräsident nach Möglichkeiten, die Staatsform der Demokratie gegen Angriffe von innen und außen zu verteidigen.

Gemäß Steinmeiers Forderung nach einer demokratischen Streitkultur, trafen bei der Diskussion unterschiedliche Positionen aufeinander. Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen geißelte die Rolle der sogenannten sozialen Medien. In ihrer Welt würde mit Lügen Profit gemacht, aus Aufregung eine Scheinwirklichkeit konstruiert. Die Macht von Algorithmen sei "einer liberalen Demokratie unwürdig".

Die Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer von der Freien Universität Berlin beklagte mit Blick auf Russland, die Gefährlichkeit von Autokratien sei lange unterschätzt worden. Sie wies auf Parallelen zur Diskussion über China hin, die ebenfalls oft von Wunschdenken geprägt sei.

Die Schriftstellerin Thea Dorn warnte vor der Sehnsucht nach einfachen Antworten auf die Frage nach gut und böse: "In dem Moment, in dem wir unserem Bedürfnis nach Klarheit nachgeben, haben wir unseren Kern verloren", sagte die Autorin und Fernseh-Moderatorin. Sie forderte dazu auf, weniger gereizt mit gesellschaftlicher und politischer Komplexität umzugehen.

Ein Beispiel für einen ruhigen Umgang mit Komplexität gab der Soziologe Hans Joas mit respektvoll geäußerter, aber offener Kritik an Steinmeier. Der Professor der Humboldt-Universität vermisste in den Äußerungen des Bundespräsidenten den Wunsch, die Gründe von Menschen zu verstehen, die sich von demokratischen Werten abwenden. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriff drang Joas darauf, auch über die Rolle der Ukraine im weltweiten Machtkampf nachzudenken. Im Umgang mit Russland riet er in Abwandlung der in der Bibel geforderten Feindesliebe: "Du sollst auch deine Feinde verstehen."

Der Soziologe Mouhanad Khorchide erinnerte daran, dass im Nahen Osten Demokratie vielfach als Produkt europäischer Länder und des Kolonialismus gesehen werde. Die Demokratie dürfe nicht zur "exklusiven Identität eines Kontinents" werden, sagte der Islamwissenschaftler. In der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen müsse es um demokratische Grundwerte gehen, mit denen sich alle Menschen als nicht verhandelbare Identität identifizieren könnten.