TV-Tipp: "Tatort: Luna frisst oder stirbt"

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Sonntag, 31. Oktober, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Luna frisst oder stirbt"

Gerade im Krimi spielen Rückblenden eine besondere Rolle, um beispielsweise Zeugenaussagen zu illustrieren. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass diese Form des Rückblicks nicht lügen darf. Eine Ausnahme bilden Bilder, die hypothetisch sind, weil sich ein Ermittler vorstellt, wie eine Tat abgelaufen sein könnte. Diese Variante macht sich Katharina Bischof bei ihrem "Tatort"-Debüt zunutze, aber sie ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat gemeinsam mit ihrer Koautorin Johanna Thalmann die fiktive Literaturverfilmung erfunden.

"Luna frisst oder stirbt" ist der Titel eines offenbar mitreißend geschriebenen Romans und potenziellen Bestsellers, mit dem die 19-jährige Frankfurterin Luise Nathan auf die prekäre Situation von Jugendlichen aus sozial benachteiligten Milieus hinweisen will. In der Nacht nach der Buchvorstellung und einer anschließenden Party ist sie von einer Eisenbahnbrücke gestürzt, was doppelt bedauerlich ist: Luise wird von Jana McKinnon gespielt; die Österreicherin hat schon als Christiane F. in der Amazon-Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" einen famosen Eindruck hinterlassen. Allerdings darf sie trotz des Ablebens ihrer Rolle weiterhin mitwirken, und das nicht nur, weil Ausschnitte aus einem Interview mit Luise eingestreut werden: Janneke und Brix (Margarita Broich, Wolfram Koch) suchen in dem Roman nach Hinweisen auf die Gründe für den vermeintlichen Suizid. Während sie das auf authentischen Ereignissen basierende Buch lesen, werden die entsprechenden Szenen lebendig.

Weil der Roman in der ersten Person geschrieben ist, wird die nicht nur im bildlichen Sinn am Abgrund balancierende Luna zunächst von McKinnon verkörpert, was zu einem bizarren Kontrast führt: Luise stammt aus einer privilegierten Familie, ihre Mutter (Nicole Marischka) ist Stadträtin für Jugend und Soziales, aber in den adaptierten Szenen, die Janneke und Brix gewissermaßen vor ihren geistigen Augen sehen, schlüpfen Mutter und Tochter in die Rollen der prekären Romanfiguren. Die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der imaginierten Wirklichkeit ist offenkundig. Tatsächlich diente offenbar Luises Freundin Nellie (Lena Urzendowsky) als Vorbild für Luna. Die beiden jungen Frauen haben sich in einem Jugendtreff kennen gelernt. Nellies Lebensumstände passen eindeutig besser zu Lunas stellenweise sehr bedrückenden Erlebnissen, die Bischof zum Teil ein zweites Mal "verfilmt", nun allerdings mit Nellie in der Rolle der Romanfigur. Als sich rausstellt, dass Luise ermordet worden ist und zudem das Opfer einer im Buch beschriebenen Entführung war, hinter der Nellie und ihr Freund (Ludwig Simon) stecken, scheint der Fall klar: Die Freundin hat sich gerächt, weil Luise sie erst ungefragt literarisch verewigt und dann nicht mal an den Bucheinnahmen beteiligen wollte.

Der Hessische Rundfunk bleibt mit "Luna frisst oder stirbt" gleich zwei Traditionen treu: Die Fernsehfilmredaktion lässt ungewöhnliche Geschichten gern auch auf ungewöhnliche Weise erzählen und gibt regelmäßig dem Nachwuchs eine Chance. Bischof hat auch ihren ersten Langfilm für den HR gedreht: "Ein Schritt zu viel" (2020) war ein gut gespieltes und geschickt verschachteltes Sugar-Daddy-Krimidrama über einen Mann, der sein Herz an eine halb so alte Frau verliert. Mit ihrem auch in den Nebenrollen mit Clemens Schick und Tinka Fürst treffend besetzten "Tatort" hat sich die Regisseurin eindeutig weiterentwickelt, zumal das Spiel mit der falschen und der echten Wirklichkeit natürlich äußerst reizvoll ist, weil die Autorinnen Ermittlerduo und Publikum mit der gleichen Frage konfrontieren: Wo endet die Fiktion, wo beginnt die Realität? Ist Luna Nellie oder Luise oder vielleicht beide?

Die im Stil der "Film im Film"-Methode gedrehten Szenen heben sich optisch zudem deutlich von der Gegenwart ab (Bildgestaltung: Julia Daschner) und sind zum Beispiel in blutrotes Licht getaucht, als die vermeintliche Roman-Luise am Mainufer eine Fehlgeburt erlebt; ausgerechnet dieser schockierende Moment wird Janneke und Brix später auf die richtige Spur führen. Johanna Thalmann war auch an der im Frühjahr ausgestrahlten eindrucksvollen Serie "Katakomben" (Joyn) beteiligt sowie Koautorin der "Tatort"-Episode "Dreams" (München), die die ARD am kommenden Sonntag zeigt. Das Drehbuch zu "Luna frisst oder stirbt" ist doppelt beeindruckend, weil die Autorinnen ja quasi auch noch einen Roman geschrieben haben. Hörenswert ist der Film ohnehin: Passagen der sehr präsenten und stellenweise großen Kinomusik hat Komponist Richard Ruzicka gemeinsam mit dem HR-Sinfonieorchester eingespielt.