TV-Tipp: "In Wahrheit: In einem anderen Leben"

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Samstag, 21. August, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "In Wahrheit: In einem anderen Leben"
Ein übermüdeter Lkw-Fahrer überfährt einen Mann, der plötzlich auf die nächtliche Landstraße stolpert: Das ist der Auftakt zum fünften Fall - "In Wahrheit: In einem anderen Leben" - für Hauptkommissarin Judith Mohn (Christina Hecke) aus Saarlouis.

Dieser Prolog wird jedoch derart lang keine Rolle mehr spielen, dass sich viele Zuschauer womöglich erst 70 Minuten später sagen werden: Stimmt, da war ja noch was. Aber selbstredend hat der Unfall mit Fahrerflucht nur scheinbar keinen Bezug zur eigentlichen Handlung; das ist die clevere Seite von Zora Holts erstem Drehbuch für die im Auftrag von ZDF und Arte produzierte Reihe "In Wahrheit". Leider enthält ihre Geschichte auch eine Ungereimtheit, die viele Fans der Saarland-Krimis erheblich irritieren wird.

"In einem anderen Leben" beginnt mit einer ärztlichen Untersuchung: Barbara Falk (Anja Kling) ist im eigenen Schlafzimmer überfallen und vergewaltigt worden. Offenbar sind ihr K.-o.-Tropfen verabreicht worden; entsprechend getrübt ist ihre Erinnerung. Weil Mohn zu spät kommt, haben zwei männliche Kollegen bereits mit der Befragung begonnen. Die Fragen entsprechen dem in solchen Fällen vermutlich üblichen Standard, aber die Situation wirkt herzlos.

Das Stammpublikum wird sich ohnehin über die Szene wundern: Im ersten Film der Reihe, "Mord am Engelsgraben" (2017), hat Mohn einen pensionierten Kollegen (Rudolf Kowalski) kennengelernt, der einst in einem ganz ähnlichen Fall ermittelt hatte. Der Polizist hatte damals den Dienst quittiert, weil er den Eltern einer jungen Ausreißerin keine Gewissheit über das Schicksal ihrer Tochter verschaffen konnte. Ab dem zweiten Film ("Jette ist tot") wurde Markus Zerner, der sich im Ruhestand um straffällig gewordene Jugendliche kümmert, zu einer Art väterlichem Freund der Kommissarin.

Im fünften Film ist dieser Mann plötzlich Mohns Vorgesetzter. Gegen Ende verrät ein Hinweis zwar, dass die Handlung in der Vergangenheit angesiedelt und eine Rückblende ist ("Fünf Jahre später"), aber das ändert natürlich nichts daran, dass Zerner bereits in Rente war, als die beiden sich das erste Mal begegnet sind.

Die Befragung von Barbara Falk ist zudem ein bestürzendes Beispiel für ein gänzlich unempathisches Verhalten. Da die Frau wegen einer Depression in psychiatrischer Behandlung war und immer noch entsprechende Medikamente nimmt, bezweifelt Zerner schließlich sogar, dass sie tatsächlich vergewaltigt worden ist. Hämatome und Fesselspuren an den Handgelenken belegen zwar, dass ihr Gewalt angetan worden ist, aber es gibt keinen Hinweis auf einen Einbruch. Auch die Weinflasche, die nach Ansicht Mohns die betäubenden Tropfen enthalten hat, ist nicht auffindbar. Der Täter, offenbar ein Phantom, hat keinerlei Spuren hinterlassen. Als Mohn in die Landeshauptstadt fährt, weil es dort vor einigen Monaten eine Anzeige wegen eines ganz ähnlichen Delikts gegeben hat, sorgt ihr Chef dafür, dass die Akte geschlossen wird, und setzt Mohns Mitarbeiter Freddy (Robin Sondermann) auf einen Raubmord an.

Die Dienstfahrt nach Saarbrücken ist gewissermaßen ein Exkurs, denn die Spur führt im Fall Falk nicht weiter. Trotzdem bereichert der Ausflug den Film: Mohn trifft auf den Kollegen Mirco Hambach, der offenbar schlampig ermittelt hat; eine sexistische Bemerkung trägt ebenfalls nicht zur gegenseitigen Sympathie bei. Immerhin arbeiten die beiden bei der Suche nach dem mutmaßlichen Vergewaltiger produktiv zusammen, zumal Hambach eigentlich doch ganz sympathisch ist. Außerdem wird er von Hendrik Duryn verkörpert, der nach dem Ende seines Engagements als Hauptdarsteller der RTL-Serie "Der Lehrer" hoffentlich wieder häufiger in anderen Produktionen zu sehen sein wird. Er wäre eine ausgezeichnete Bereicherung für "In Wahrheit": Der Reihe würde ein Kerl dieses Kalibers schauspielerisch und inhaltlich gut tun, zumal dann sowohl Mohn wie auch Hecke jemanden hätten, mit dem sie sich auf Augenhöhe messen können.

Aber nicht nur Duryn sorgt dafür, dass "In einem anderen Leben" trotz einiger Schwächen sehenswert ist: Holts Drehbuch schlägt immer wieder unerwartete Haken. Der Saarbrücker Nebenstrang endet zwar sang- und klanglos im Nichts, aber dafür führt der Raubmord Mohn auf die richtige Spur. Und abgesehen von der taktlosen Befragung durch Zerner, die ohnehin Teil der Dramaturgie ist, wird das zentrale Thema Vergewaltigung angemessen seriös und sensibel behandelt.

Die Inszenierung durch Jens Wischnewski entspricht über weite Strecken dem üblichen Krimi-Standard, setzt jedoch mehrfach optische Akzente, um den Zustand von Barbara Falk zu illustrieren (Bildgestaltung: Frank Küpper). Dass Anja Kling die fundamentale Erschütterung dieser Frau berührend verkörpert, bedarf im Grunde keiner Erwähnung, zumal Holt – die gelernte Schauspielerin hat zuvor die Drehbücher für zwei sehenswerte Episoden der ZDF-Reihe "Unter anderen Umständen" geschrieben – viele Aspekte findet, um das Schicksal der Frau zu verdeutlichen: Als Barbara ihren Mann (Martin Lindow) anruft, um ihm zu erzählen, was ihr widerfahren ist, kann er sie nicht hören; deshalb erzählt er gutgelaunt von seiner Klassenfahrt. Dass Zerner ihren Schilderungen keinen rechten Glauben schenkt, ist unerhört, passt aber statistisch ins Bild, wie bei einem Gespräch im Präsidium angemerkt wird: Anzeigen wegen Vergewaltigungen führen frustrierend selten zu Verurteilungen, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.

Als bester Clou des Drehbuchs entpuppt sich jedoch der Prolog: Als sich der Kreis schließt, zeigt sich, dass Holt und Wischnewski ein raffiniertes Verwirrspiel mit dem Publikum getrieben haben. Der Regisseur hat zuletzt neben zwei durchschnittlichen Episoden für die ARD-Reihe "Der Lissabon-Krimi" (2019) einen sehenswerten "Tatort" aus Stuttgart mit Katharina Marie Schubert als vermeintlicher "Engel des Todes" (2019) gedreht.