TV-Tipp: "Kokon"

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17. August, ZDF, 23 Uhr
TV-Tipp: "Kokon"
Der Berliner Sommer 2018 war anders als alle anderen zuvor; jedenfalls für die 14-jährige Nora. Damals hat sie ihren schützenden Kokon verlassen und ist flügge geworden. Solche Prozesse sind in der Regel gleichermaßen schmerzlich wie schön.

Auch Nora lässt ihr vertrautes Dasein hinter sich und ist voller Neugier auf das, was nun kommt: ein Leben voller Abenteuer und aufregender Entdeckungen; erste Liebe und erste Enttäuschung inklusive. Im Grunde erzählt Leonie Krippendorf (Buch und Regie) mit ihrem zweiten Film nach dem Debüt "Looping" eine ganz einfache Geschichte: Ein Mädchen wird zur Frau. Aus Sicht von Nora (Lena Urzendowsky) ist das natürlich ein äußerst komplizierter Vorgang, zumal sie quasi ohne die ständig abwesende und an ihren Töchtern offenbar nicht sonderlich interessierte Mutter (Anja Schneider) aufwächst und ihre nur unwesentlich ältere Schwester Jule (Lena Klenke) keine große Hilfe ist: Als Nora während des Sportunterrichts zum ersten Mal ihre Tage bekommt, ist es nicht Jule, die sich um sie kümmert, sondern Romy (Jella Haase). Die Begegnung hat Folgen, vor allem für Nora: Romy, zweimal sitzen geblieben, ist eine junge Frau und unterscheidet sich deutlich von Jule und deren besten Freundin Aylin (Elina Vildanova), die bloß an ihre Wirkung auf Jungs zu denken scheinen. Verwirrt stellt Nora fest, dass Romy ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. 

Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten (2018) war Lena Urzendowsky bereits 18. Trotzdem gelingt es ihr, die 14-Jährige jederzeit glaubwürdig zu verkörpern. Die junge Schauspielerin ist mit Preisen für ihre Hauptrolle in dem Jugenddrama "Das weiße Kaninchen" (2016) förmlich überschüttet worden, weitere Auszeichnungen bekam sie für "Der große Rudolph" (2018) und auch für "Kokon". Der Film, eine Koproduktion mit der ZDF-Redaktion Das kleine Fernsehspiel, ist zwar fürs Kino entstanden, dort aber kaum beachtet worden. Im Fernsehen fällt er in erster Linie durch sein Format aus dem Rahmen: Krippendorf (Jahrgang 1985), wie ihre Hauptfiguren in Kreuzberg aufgewachsen, allerdings zwei Jugendgenerationen früher, hat den Film in 4:3 gedreht. Die letzte Arbeit der Regisseurin war die ZDF-Kurzfilmserie "Loving Her" mit Banafshe Hourmazdi als lesbische junge Frau, die allerlei Liebesleid und -freud’ erlebt; Lena Klenke verkörperte darin die erste große Liebe. In "Looping", Krippendorfs Abschlussfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf, ging es ebenfalls um die Suche einer jungen Frau (Jella Haase) nach ihrem Platz im Leben; das ZDF war auch hier beteiligt.

Als Metapher für Noras Metamorphose lässt die Regisseurin ihre Hauptfigur Raupen züchten; dieses Bildes hätte es angesichts von Urzendowskys starker Leistung eigentlich gar nicht bedurft. Die herausragend gute Führung der ausschließlich weiblichen Hauptdarstellerinnen ist ohnehin ein Qualitätsmerkmal von Krippendorfs bisherigen Arbeiten. "Kokon" wirkt derart authentisch, dass sich die Frage aufdrängt: Spielen die Ensemblemitglieder überhaupt oder sind sie einfach sie selbst? Pubertierende Jungs zeichnen sich ja durch eine gewisse Neigung zu peinlichen Auftritten aus; die männlichen Darsteller führen das ohne Scheu vor der Kamera vor. Unverzichtbarer Teil dieser Realitätsnähe ist auch die unverblümte Sprache. Sensiblen Gemütern wird es gar nicht gefallen, wenn sich die Jugendlichen diskriminierende Beleidigungen wie "Du Missgeburt" an den Kopf werfen oder die Jungs dauernd davon reden, dass irgendwas "schwul" aussehe (und das natürlich negativ meinen). Interessant sind auch beiläufig eingestreute Belege der kulturellen Vermischung: Um eine Aussage zu unterstreichen, sagt die keineswegs muslimische Jule gern "Ich schwör’ auf den Koran".

Von all’ dem ist Nora weit entfernt. Während Jule viel Zeit mit den Videos irgendwelcher YouTube-Influencerinnen verbringt, geht ihre jüngere Schwester mit offenen Augen und offenem Herzen durchs Leben. Weil ihr ein Junge bei einem pubertären Zeitvertreibspiel die Hand gebrochen hat, muss sie eine Klassenfahrt absagen und nimmt stattdessen am Unterricht von Jule teil. Körperlich sind die anderen der kindlichen Nora voraus, aber geistig spielt Nora in einer anderen Liga. Das verdeutlichen nicht nur ihre philosophischen Gedanken, die tagebuchartig die einzelnen Filmkapitel miteinander verbinden, sondern auch ihr Vortrag von Isabelle Tuengerthals Gedicht "Der Falter"; dessen Zeilen ("… und stürzt sich freudig in die Glut") sind eine perfekte Beschreibung dieses für die Jugendjahre so typischen Zustandsgemischs aus Weltschmerz, Verwirrung und Aufbruchstimmung.