TV-Tipp: "Schockwellen"

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TV-Tipp: "Schockwellen"
30. Juni, ARD, 22.50 Uhr

Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht: Kaum hat der Frühling den Winter verdrängt, ist der Winter vergessen. Ähnlich verhält es sich mit der Pandemie: Die Sonne lacht, Freibäder, Seen und Biergärten locken, viele Menschen sind geimpft oder genesen. Die meisten Beschränkungen sind gelockert worden, das Leben hat uns zurück; und umgekehrt. Genau zur richtigen Zeit bringt Volker Heise in Erinnerung, wie ein Virus namens Sars-CoV-2 das Land abgesehen von einer kurzen Erholungsphase im Sommer 2020 15 Monate lang im Griff hatte. Die Corona-Chronik "Schockwellen" ist eine Collage mit Ausschnitten aus Nachrichten, Reportagen, Talkshows und Videoblogs. Unkommentiert sammelt der vielfach ausgezeichnete Filmemacher ("24h Berlin – Ein Tag im Leben") Augenblicke: der erste Todesfall, das erste Geisterspiel in der Bundesliga, die geschlossenen Grenzübergänge. Die Impressionen verdeutlichen vor allem eins: Wir glauben gern, alles unter Kontrolle zu haben, aber ein mikroskopisch kleiner Feind hat die Welt quasi über Nacht problemlos aus den Angeln gehoben. Nichts könnte dies besser illustrieren als die Straßen- und Spielplatzbilder der wie ausgestorben wirkenden Großstädte.

Der Film beginnt mit Angela Merkels Begrüßung des Jahres 2020 und ihrer Versicherung, wir hätten "gute Gründe, zuversichtlich zu sein". Es folgen erste Berichte über ein "neuartiges Corona-Virus" aus China und Aufnahmen vom Markt in Wuhan, wo mutmaßlich alles begann. Der Erreger erreicht Amerika; Donald Trump versichert, man habe alles unter Kontrolle. Auch erste deutsche Stellungnahmen laufen auf die beruhigende Nachricht hinaus, es drohe keine Gefahr. In China werden zwar radikale Maßnahmen ergriffen, aber Gesundheitsminister Jens Spahn sagt: "Wir wissen, was zu tun ist." In diesem Stil geht es weiter: Auf den ersten bekannten deutschen Fall in Bayern folgt der erste Auftritt des Charité-Virologen Christian Drosten, der damals noch nicht ahnen konnte, dass er zu einem der prägenden Pandemiegesichter werden würde. Dann der Karneval in Heinsberg und die "Tagesthemen"-Frage an Spahn: Hätte sich das nicht verhindern lassen? Die Antwort, sinngemäß: Wir können doch nicht das gesamte öffentliche Leben lahm legen. Drosten sagt, noch seien es nur einzelne Funken, aber seine Botschaft ist klar: Aus den Funken werden Flammennester. Heute wissen wir: Es wurde ein Flächenbrand; und es dauerte nicht lange, bis sich das öffentliche Leben sehr wohl lahm legen ließ.

Größtes Qualitätsmerkmal des Films ist womöglich Heises Verzicht auf Schlaumeierei. Bei einem resümierenden Werk dieser Art ist die Versuchung groß, im Nachhinein alles besser zu wissen; allein die Fehler bei der Maskenbeschaffung, die Mauscheleien und Betrugsversuche würden für eine abendfüllende Dokumentation reichen. Heise begnügt sich jedoch mit kurzen Stellungnahmen jener, die die Konzeptlosigkeit ausbaden mussten: Die Impfzentren stehen, aber sie haben keinen Impfstoff. Allein bei Trump lässt der Filmemacher keine Gnade walten: Die Aussagen des damaligen US-Präsidenten klingen immer absurder. Am Ende werden nirgendwo auf der Welt so viele Menschen an oder mit dem Virus gestorben sein wie in den Vereinigten Staaten.

Ergänzend zu den Ausschnitten, die so etwas wie die öffentliche Geschichtsschreibung darstellen, ist immer wieder Volkes Stimme zu hören, darunter auch Menschen, die sich, angestachelt von dubiosen Anführern, im Rahmen von Corona-Demos über die Maßnahmen der Regierenden echauffieren. Demgegenüber stehen die Statements von Ärztinnen und Ärzten, die im italienischen Bergamo irgendwann bloß noch das Sterben verwalten können. Auf die schlimmsten Bilder hat Heise sogar verzichtet, aber was er zeigt, genügt, um umgehend die Erinnerung an die damalige Betroffenheit wachzurufen: hier die bäuchlings beatmeten Corona-Opfer auf der Intensivstation, dort die auf Militärlastern zum Friedhof gekarrten Leichen.

Zwischendurch zeigt "Schockwellen" Momentaufnahmen, die nahelegen: Aus dem Thema ließe sich auch eine sehr makabre Komödie machen; dafür stehen jene Männer, die im Supermarkt das Klopapierregal leer räumen. Unmittelbar drauf macht Heise deutlich, warum Corona nicht lustig ist: Ein sehr alter Mann verabschiedet sich von seiner Frau im Pflegeheim; er ahnt, dass er sie nicht wiedersehen wird. Später erzählen Menschen im Rahmen einer Trauerfeier von ihren allein verstorbenen Angehörigen. In ihrer Rede zum Jahreswechsel 2021 spricht Merkel von "schweren Zeiten für unser Land". Es wird sich zeigen, ob das Land aus diesen Zeiten gelernt hat.