Größte Landeskirche plant Studie zu sexualisierter Gewalt

Andacht in der Kreuzkirche am Vorabend des Hannover-Marathons 2019 mit Pastorin Karoline Läger-Reinbold
© epd-bild/Jens Schulze
Die landeskirchliche Ansprechpartnerin zur institutionellen Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt, Pastorin Karoline Läger-Reinbold, gab bekannt, dass die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover eine eigene unabhängige Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche in Auftrag geben wird. (Archivbild)
Größte Landeskirche plant Studie zu sexualisierter Gewalt
In Nenndorf bei Hamburg kam es in den 1980er und 1990er Jahren zu einem Fall von schwerem sexuellen Missbrauch in einer evangelischen Kirchengemeinde. Jetzt will die Landeskirche Hannover die Hintergründe und Ursachen erforschen lassen.

Die größte evangelische Landeskirche, die Landeskirche Hannover, will eine eigene unabhängige Studie zu sexualisierter Gewalt in Auftrag geben. Im Mittelpunkt stehe dabei ein Fall von schwerem sexuellen Missbrauch unter anderem in Nenndorf bei Hamburg, sagte die landeskirchliche Ansprechpartnerin zur institutionellen Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt, Karoline Läger-Reinbold, dem epd am Donnerstag in Hannover. In Nenndorf hatte sich ein evangelischer Pastor in den 1980er und 1990er Jahren an einer früheren Konfirmandin vergangen. Die Frau war 2020 an die Öffentlichkeit gegangen, um eine Aufarbeitung zu ermöglichen.

„Wir wollen wissen, wieso das geschehen konnte, ohne dass jemand eingegriffen hat, und warum das die Leitung nicht erkannt hat“, sagte Läger-Reinbold. „Es ist in dem Ort relativ bekannt gewesen, dass da ein Täter gezielt die Nähe zu jungen Frauen gesucht hat.“

Der Fall sei aus heutiger Sicht eng verknüpft mit der liberalen Pädagogik jener Zeit. Damals habe es in der Folge der 1968er-Bewegung viele Neuansätze in der Jugendarbeit gegeben, auch in der Kirche. Wo Jugendarbeit auf Beziehung gesetzt habe, seien an manchen Orten offenbar auch Grenzen gegenüber schutzbedürftigen Menschen überschritten worden.

Experten sollen ungehinderten Zugang zu den Akten erhalten

Mit der Studie sollen ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet beauftragt werden, sagte Läger-Reinbold. Die Landeskirche will ihnen einen ungehinderten Zugang zu den Akten ermöglichen. Zudem solle es Gespräche mit Zeitzeugen geben. Die Verhandlungen mit den Vertragspartnern seien allerdings noch nicht abgeschlossen. Auch die Höhe der Kosten stehe deshalb noch nicht fest.

Auch die Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als Zusammenschluss der 20 evangelischen Landeskirchen lässt Strukturen sexualisierter Gewalt wissenschaftlich untersuchen. Im Dezember 2020 starteten mehrere Teilstudien. Ergebnisse sollen im Herbst 2023 vorliegen. Derzeit sind rund 900 Missbrauchsfälle im Bereich der EKD bekannt. Wie hoch die Dunkelziffer ist, ist unklar.

In Nenndorf war der mittlerweile verstorbene Pastor Jörg D. für seine engagierte Jugendarbeit bekannt. Der Missbrauch habe über Jahre angedauert, berichtete die frühere Konfirmandin vor einem Jahr. Der Täter habe zunächst etwa bei Freizeiten Grenzen allmählich überschritten, indem er Mädchen umarmte, massierte und an sich drückte. Die Frau hatte 2015 Kontakt zur Landeskirche aufgenommen. Inzwischen haben sich weitere Betroffene in dem Fall gemeldet, auch aus dem Raum Wolfsburg, wo D. ebenfalls Pastor war.

In den 1980er und 90er Jahren wird Katarina Sörensen (Name geändert) vom Pastor ihrer Gemeinde missbraucht. Sie sprach später öffentlich - zusammen mit Kirchenvertretern - über den damaligen Fall im Landkreis Harburg.

„Die Studie ist eine Tiefenbohrung ein einem Bereich, der uns besonders aufklärungsbedürftig erscheint“, sagte Oberlandeskirchenrat Rainer Mainusch. Möglicherweise könnten in den nächsten Jahren noch weitere solcher Fälle auftauchen, denn wer sexualisierte Gewalt erlebt habe, brauche oft Jahre und Jahrzehnte, um davon erzählen zu können.

In der Landeskirche sind laut Mainusch bislang 130 Fälle von sexuellem Missbrauch seit 1945 bekannt. 114 von ihnen ereigneten sich in der Nachkriegszeit in Erziehungsheimen der Diakonie. 16 Fälle geschahen in Kirchengemeinden, hier waren Pastoren, Diakone oder Kirchenmusiker die Täter. Seit 1999 eröffnete die Kirche sieben Disziplinarverfahren gegen Pastoren. Zudem wurden vier Mitarbeiter gekündigt oder erhielten Aufhebungsverträge.