TV-Tipp: "Fukushima und der deutsche Atomausstieg"

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TV-Tipp: "Fukushima und der deutsche Atomausstieg"
1.März, ARD, 23.35 Uhr
Eine spannende RBB-Dokumentation rekapituliert noch einmal die dramatischen Stunden im März 2011, als die Bundesregierung von Union und FDP im Anschluss an die Reaktorkatastrophe von Fukushima das Kapitel Kernenergie beendeten.

Viele Menschen interessieren sich nicht für Politik, obwohl sie unser tägliches Leben bestimmt. Die einen sind der Meinung, "die da oben" machten ohnehin, was sie wollen; die anderen finden Politik schlicht langweilig. Das hat natürlich auch mit der Berichterstattung zu tun, weil sich gerade das Fernsehen viel zu selten Zeit nimmt, um die Zusammenhänge zu verdeutlichen. Oft geht das allerdings auch erst im Nachhinein, da Beteiligte meist erst Jahre später bereit sind zu erzählen, was bei geheimen Sitzungen gesagt worden ist. Die RBB-Dokumentation "Fukushima und der deutsche Atomausstieg" ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie spannend Politik sein kann. In fesselnden 45 Minuten rekapituliert Inge Kloepfer jene 96 Stunden im März 2011, als Union und FDP quasi über Nacht das Kapitel Kernenergie beendeten, obwohl sie die Laufzeit der Kraftwerke noch wenige Monate zuvor verlängert hatten.

Wie auch immer Historiker und Politikwissenschaftler dereinst die Ära Angela Merkel bewerten mögen: Der Ausstieg aus der Atomkraft dürfte ihre Kanzlerschaft im Rückblick ähnlich prägen wie die Ereignisse vom 4. September 2015, als sie die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge aus Syrien ins Land gelassen hat. Während die Antwort auf Flüchtlingsfrage eine Entscheidung der Humanität und des Herzens war, dürfte die Kanzlerin bei ihrer Abkehr von der Kernenergie eher dem politischen Kalkül gefolgt sein: Die Bevölkerung war ohnehin gespalten, und selbstverständlich fragte sich jeder, der die Katastrophenbilder der explodierenden Kraftwerke gesehen hatte, wie es denn wohl um die Sicherheit der deutschen Anlagen bestellt sei. Außerdem standen in Baden-Württemberg Landtagswahlen an. Der damals amtierende Ministerpräsident Stefan Mappus lag in den Umfragen weit vorn und erinnert sich in Kloepfers Film, wie die politische Agenda plötzlich von einem ganz anderen Thema dominiert wurde; zwei Wochen nach Fukushima beendeten Grüne und SPD die jahrzehntelange Vorherrschaft der CDU im "Ländle".

Natürlich zeigt die Dokumentation noch mal die schockierenden Aufnahmen, als Japan erst von einem Erdbeben erschüttert und dann von einem Tsunami heimgesucht wurde; geschickt kombiniert die Autorin die Berichte des damaligen ARD-Korrespondenten in Tokio, Philipp Abresch, mit seinen heutigen Erinnerungen. Der besondere Reiz des Films liegt jedoch in der Rekonstruktion all’ dessen, was sich hinter den Kulissen abspielte. Zu diesem Zweck hat Kloepfer ein Panoptikum an Zeitzeugen versammelt, die alle beteiligten Gruppen repräsentieren: Regierung, Opposition und Vertreter der Energiekonzerne. Besonders interessant sind die Einblicke in die Entscheidungsfindung: Gerald Hennenhöfer war damals Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im von Norbert Röttgen geführten Bundesumweltministerium und hatte eine clevere Idee, wie ein Ausstiegsszenario eingeleitet werden könnte. Dem gegenüber stehen die Schilderungen des ehemaligen E.on-Vorstandsmitglieds für Energie, Klaus-Dieter Maubach: Die Konzerne waren bis zu jenem 11. März guten Mutes, denn angesichts der zunehmenden Sorgen über den offensichtlichen Klimawandel wähnten sich die Unternehmen mit ihrer vermeintlich sauberen Kernenergie im Aufwind.

Für die Einbettung der Fakten ins historische Gesamtbild sorgt die Opposition jener Jahre: Renate Künast, damals Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, erinnert an die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung in den Siebzigerjahren: Die völlig aus dem Ruder gelaufene Polizeigewalt an den Bauzäunen in Gorleben und Brokdorf gehört maßgeblich zum Gründungsmythos der Grünen. Jürgen Trittin wiederum schlägt den Bogen zur Katastrophe in Tschernobyl 1986. Er war als Umweltminister in der rotgrünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder maßgeblicher Initiator des Ausbaus erneuerbarer Energien und Vater des sogenannten Atomkonsens’, der den allmählichen Ausstieg aus der Kernenergie durch einen entsprechenden Vertrag mit den Betreibergesellschaften besiegelte. Zu den Gesprächspartnern gehört auch Günter Bannas, langjähriger Leiter des Hauptstadtbüros der FAZ, dessen journalistische Einschätzungen die Ausführungen abrunden. Hergestellt wurde der Film von Sandra Maischerbergers Firma Vincent Television, deren Produktionen (darunter auch das erschütternde Ehrenmord-Drama "Nur eine Frau" mit Almila Bagriacik, 2019) ohnehin in der Regel sehenswert und handwerklich auf hohem Niveau sind. Das gilt in diesem Fall auch für die gut ausgewählte, aber nicht übertrieben präsente musikalische Untermalung sowie für Benno Fürmann, der als Sprecher mit seiner markanten Stimme akustische Akzente setzt.