TV-Tipp: "Charite"

Altmodischer Fernseher vor einer Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Charite"
12.1., ARD, 20.15 Uhr
Manchmal zeigt sich erst viel später, wie brillant eine Idee war: Mit "Charité“ hat die ARD vor einigen Jahren ein faszinierendes Konzept entwickelt, um die deutsche Historie des 20. Jahrhunderts mit medizinischen Ereignissen zu kombinieren, die ihrerseits Geschichte geschrieben haben.

Die erste Staffel spielte zur Zeit des Kaiserreichs, litt jedoch an fehlender Nähe zu den Figuren, weil die Handlung allzu ehrfürchtig vor den Koryphäen erstarrte. Dennoch war die Serie sehr erfolgreich und eine der Überraschungen des Fernsehjahres 2017. In Staffel zwei (2019) sorgten starke weibliche Hauptfiguren dafür, dass die Frauen im Ensemble nun mehr als bloß schmückenden Beiwerk waren; den zeitlichen Rahmen bildete der Zweite Weltkrieg.

Die neuen Folgen führen dieses Konzept weiter. Zentrale Figur ist nun eine junge Medizinerin, die an die Ostberliner Klinik versetzt worden ist und bis tief in die Nacht jede freie Minute ihrem Lebenswerk widmet: Nach dem Krebstod ihrer Mutter ist die selbstbewusste Internistin Ella Wendt (Nina Gummich) geradezu besessen davon, im Blut eine Früherkennung für Tumore zu entdecken. Sie erhofft sich Unterstützung von Otto Prokop (Philipp Hochmair), aber der wie ein Popstar gefeierte und entsprechend selbstverliebte Wiener Serologe wimmelt sie ab. Prokop hat selbst schon vergeblich in dieser Richtung geforscht und ist ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, die Kriminalpolizei bei der Aufklärung mysteriöser Todesfälle zu unterstützen, kommt dabei aber immerhin einem Serienmörder auf die Spur.

Auch die dritte Staffel ist als Spielfilm in drei Teilen konzipiert; die ARD strahlt die Serie in drei Doppelfolgen aus (in der Mediathek kann bereits die komplette Serie abgerufen werden). Dank einer cleveren Binnendramaturgie schürt jeder Schluss die Neugier auf die Fortsetzung, zumal dem um Regisseurin Christine Hartmann ergänzten Autorenteam (Stefan Dähnert, John-Hendrik Karsten, Thomas Laue) erneut eine geschickte Kombination von Einzelschicksalen und Historie gelungen ist. Während Ärztinnen und Ärzte drinnen um das Leben der Patienten kämpfen, ereignet sich draußen Weltgeschichte: Die Handlung setzt im Sommer 1961 ein. Die DDR bereitet sich darauf, die Grenze zu schließen; die Klinik liegt im direkten Grenzgebiet. Tausende nutzen die letzten Gelegenheiten, um in den Westen zu fliehen. Von diesem Aderlass ist auch der ohnehin schon unter der Mangelwirtschaft leidend Klinikkomplex betroffen; die Personaldecke wird immer dünner.

Neben der sorgfältigen Ausstattung beeindruckt auch die dritte Staffel durch ihre Besetzung. Auf diese Weise erfährt zum Beispiel die quantitativ eher kleine Rolle eines angesehenen Gynäkologen eine enorme Aufwertung: Der konservative Arzt Helmut Kraatz wird von Uwe Ochsenknecht verkörpert. Der Gynäkologe ist ebenso wie Prokop einer authentischen Figur nachempfunden. Sein Gegenentwurf ist die fortschrittlich eingestellte Kinderärztin Ingeborg Rapoport (Nina Kunzendorf). Die Säuglingsspezialistin hat Medizingeschichte geschrieben und 2015 im unglaublichen Alter von 102 Jahren ihren einst von den Nationalsozialisten aberkannten Doktortitel verteidigt. In der Serie gilt ihr Bemühen einem Westberliner Jungen, der sich mit Polio infiziert hat; in der DDR war die Kinderlähmung zu jener Zeit dank einer erfolgreichen Impfkampagne längst ausgerottet. Reizvoll ist auch die Besetzung eines sympathischen Chirurgen, der Ella dazu ermuntert, bei ihren Forschungen nicht nachzulassen: Seine markantesten Rollen hat Franz Hartwig als Serienmörder in der Sky-Serie „Der Pass“ sowie als Angeklagter in dem ARD-Zweiteiler „Feinde“ nach Ferdinand von Schirach gespielt. Hier darf er sich als Kollege, der an Ella nicht bloß beruflich interessiert ist, nach Feierabend unterm Sternenhimmel auf dem Klinikdach in die Ferne träumen.

Weitere Nebenfiguren entsprechen allerdings den üblichen Klischees vieler Krankenhausserien, allen voran Hildegard Schroedter als Oberschwester Gerda; sie entspricht bis in Detail jenem resolut-herzlichen Typus, der seit der ZDF-Serie "Die Schwarzwaldklinik" in keiner Krankenhausserie fehlen darf. Ellas lebenslustige Mitbewohnerin Arianna (Patricia Meeden) stammt aus Kuba und hat daher selbstredend ständig gute Laune; der patente Hausmeister mit dem ulkigen Spitznamen "Pflaster" (Uwe Preuss) hat für jedes handwerkliche Problem die passende Lösung. Von solchen Stereotypen abgesehen sind Christine Hartmann ("Ein Schnupfen hätte auch gereicht") sechs fesselnde Folgen gelungen. Die Musik (Fabian Römer, Matthias Hillebrand-Gonzalez) sorgt für die nötige Spannung, wenn die Säuglingsspezialistin Ingeborg Rapoport hingebungsvoll um das Leben ihrer kleinen Patienten kämpft. Außerdem haben die Autoren ihre Drehbücher um gewisse Bezüge zur Gegenwart ergänzt. "Wissen ist unbestechlich!" lautet die Devise des Gerichtsmediziners: Die Wissenschaft sei gerade in wirren Zeiten die einzig verlässliche Konstante. Eher unpassend klingen dagegen moderne Redewendungen wie "Alles gut" oder "nicht Ihr Ernst!". Die ergänzende Dokumentation "Die Charité – Ein Krankenhaus im Kalten Krieg" (heute um 21.50 Uhr) erzählt die Geschichte der Klinik von der Stalin-Ära über den Mauerbau bis zum Mauerfall 1989.