TV-Tipp: "Ökozid"

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TV-Tipp: "Ökozid"
18. November, ARD, 20.15 Uhr
Es ist das Jahr 2034. Deutschland steht am Pranger. 31 von Überflutungen gebeutelte Staaten haben die Bundesrepublik vor den Internationalen Gerichtshof gezogen. Wegen unterlassener Hilfeleistung in Sachen Klimawandel. Die Kläger wollen einen Präzedenzfall schaffen und fordern einen jährlichen Schadenersatz in Höhe von 60 Milliarden Euro.

Das Prädikat "Spannend wie ein Thriller" wäre zwar übertrieben, aber es ist durchaus eindrucksvoll, wie fesselnd Andres Veiel diesen höchst erklärungsbedürftigen Stoff umgesetzt hat. Der für Filme wie "Der Kick", "Wer wenn nicht wir" oder "Beuys" vielfach ausgezeichnete Filmemacher hat für "Ökozid" ein ungewöhnliches Szenario geschaffen: 2034 haben 31 Staaten des von Überflutungen heimgesuchten globalen Südens die Bundesrepublik Deutschland beim Internationalen Gerichtshof verklagt, weil sie zu Beginn des Jahrtausends ihrer Verantwortung für den Klimaschutz nicht nachgekommen sei.

Deutschland habe daher seine völkerrechtliche Pflicht verletzt. Die Kläger wollen einen Präzedenzfall schaffen und fordern einen jährlichen Schadenersatz in Höhe von 60 Milliarden Euro. Sie beziehen sich auf die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, aus der sie ein Recht der Natur auf Unversehrtheit ableiten. Demnach hätten Staaten grundsätzlich die Pflicht, gegen den Klimawandel vorzugehen.

 

Der Film folgt dem klassischen Muster des Gerichtsdramas: Anwälte rufen Zeugen auf und legen die Position ihrer Klienten dar, während der Vorsitzende Richter um Sachlichkeit bemüht ist. Trotz der Ansiedlung der Handlung im Jahr 2034 – vier Jahre vor der geplanten Abschaltung des letzten deutschen Kohlekraftwerks – ist "Ökozid" kein Science-Fiction-Film, denn verhandelt wird die heutige Gegenwart. Zunächst muss das wegen mehrerer Sturmfluten in den Niederlanden von Den Haag nach Berlin umgezogene Gericht jedoch darüber befinden, ob die Klage überhaupt zugelassen werden kann; schon allein diese Entscheidung ist eine Sensation. Anschließend rufen die beiden Vertreterinnen der Anklage sowie der Verteidiger der Bundesrepublik ihre Zeuginnen und Zeugen auf. Prominenteste Repräsentantin des Staats ist die einstige Kanzlerin Angela Merkel; Gerhard Schröder ist leider unpässlich.

Der Reiz des Films liegt natürlich in seinem aktuellen Bezug; "durch die Brille der Zukunft das Heute betrachten", wie es Veiel formuliert. Die erfahrene Prozessanwältin Wiebke Kastager (Nina Kunzendorf) und ihre jüngere Kollegin, die frühere Klimaaktivistin Larissa Meybach (Friederike Becht), dokumentieren mit Hilfe von Vertretern verschiedener Umweltverbände die klimapolitischen Versäumnisse der Bundesregierungen unter Schröder und Merkel. Beide hätten frühzeitig die Weichen für eine ökologische Zukunft stellen können, haben jedoch wirtschaftspolitische Prioritäten gesetzt, weil ihnen die Sicherung von Arbeitsplätzen wichtiger war als der Klimaschutz: Bei Schröder ging es um die Jobs in den Kohleregionen, bei Merkel um die Automobilindustrie.

Die Juristinnen können nachweisen, dass Energieunternehmen und Autokonzerne exzellente Lobbyarbeit geleistet haben: Die einen brauchten sich keine Sorgen über den Emissionshandel zu machen, die anderen konnten auch weiterhin unbehelligt von Umweltauflagen ihre SUVs verkaufen. Allein wegen der gut verständlichen Erläuterungen dieser zum Teil absurden Zusammenhänge und Hintergründe gebührt Veiel und seiner Koautorin Jutta Doberstein großer Respekt. Die Zeugen, die Victor Graf (Ulrich Tukur) als Verteidiger aufruft, darunter neben Merkel ein Klimaforscher und ein früherer RWE-Vorstand, haben die deutlich schlechteren Argumente.

Darstellerisch ist das alles exzellent; Edgar Selge ragt aus dem vorzüglichen Ensemble als Vorsitzender Richter noch heraus. Die Qualität der Schauspieler stand allerdings trotz der enormen Textmengen ohnehin außer Frage. Die größere Herausforderung für Veiel und Doberstein dürfte darin bestanden haben, das Publikum lückenlos zu informieren, ohne es mit Zahlen, Daten und Fakten zu erschlagen. Da sich die Handlung größtenteils im eigens für "Ökozid" gestalteten Gerichtssaal abspielt, war außerdem die Gefahr groß, dass das in nur 19 Tagen gedrehte Drama wie abgefilmtes Theater wirkt, was Veiel durch häufige Perspektivwechsel vermeidet.

Für Abwechslung sorgen außerdem dokumentarische Zeitreisen mit Bildern von Klimagipfeln und Naturkatastrophen, aktuelle Nachrichten mit "Tagesthemen"-Moderator Ingo Zamperoni sowie eine weitere Ebene. Auch sie hat direkten Bezug zur Gegenwart. Ihr Protagonist ist ein junger Mann, der den Prozess in den digitalen Netzwerken kommentiert und mit seinen skrupellosen Manipulationen dafür sorgt, dass die Volksseele angesichts des Verhandlungsverlaufs immer mehr in Wallung gerät. Der Prozess erfordert dagegen allein aufgrund der thematischen Komplexität hohe Konzentration.

Zur Belohnung überrascht Veiel mit einem Finale, das Angela Merkel, einst immerhin als "Klimakanzlerin" gepriesen, womöglich sehr nachdenklich stimmen wird. Wie sehr der Film in der Gegenwart verwurzelt ist, zeigt nicht zuletzt ihre Verkörperung durch Martina Eitner-Acheampong: Die Schauspielerin ist sechs Jahre jünger und sieht trotz entsprechender Arbeit des Maskenbilds beim besten Willen nicht wie eine Achtzigjährige aus; so alt wird Merkel in 14 Jahren sein.