TV-Tipp: "Oktoberfest 1900"

Altmodischer Fernseher vor einer Wand
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TV-Tipp: "Oktoberfest 1900"
15. September, ARD, 20.15 Uhr
Wenn es sich nicht gerade um epochale Ereignisse handelt, stellt sich bei historischen Stoffen stets die Frage: Warum sollten sich Fernsehzuschauer im 21. Jahrhundert zum Beispiel für einen Bierkampf ums Münchener Oktoberfest vor 120 Jahren interessieren? Der von der ARD völlig zu Recht als "Event-Serie" angekündigte Sechsteiler braucht jedoch nur wenige Augenblicke, um jeden Zweifel zu tilgen.

Das liegt natürlich auch an der auf wahren Begebenheiten basierenden epischen Handlung, die alsbald Shakespeare-Format annimmt, sowie den Brücken, die sie in die Gegenwart schlägt. Zu einem "Event" wird "Oktoberfest 1900" jedoch durch die Inszenierung Hannu Salonens. Dank der famosen Bild- und Lichtgestaltung von Felix Cramer fasziniert das mitunter deftig-saftige Sittengemälde mit optischen Anleihen bei völlig wesensfremden Genres wie dem Western, dem Horrorfilm oder einem Mafia-Epos im Stil von Martin Scorseses "Gangs of New York".

Davon abgesehen bietet das Drehbuch des von Ronny Schalk und Christian Limmer angeführten Autorenteams nicht nur eine verblüffende Vielzahl gänzlich verschiedener Perspektiven, sondern auch diverse Polaritäten. Die auffälligste ist sicherlich Tradition versus Fortschritt, aber der Generationenkonflikt spielt ebenso eine wichtige Rolle wie die Auflehnung einiger Frauen gegen tradierte Geschlechterrollen sowie die anarchische Auseinandersetzung der Künstlerszene mit der bayerischen Monarchie. Aber im Grunde erzählt "Oktoberfest 1900" die Geschichte einer Rache: Ein Mann musste in jungen Jahren hilflos mit ansehen, wie sein Vater grausam erschlagen wurde; mit der entsprechenden Rückblende beginnt die erste Folge.

Vierzig Jahre später ist aus dem Kind ein Mann geworden, der bei der Durchsetzung seiner Ziele über Leichen geht. Curt Prank (Mišel Matičević), ehemaliger Bordellbesitzer aus Nürnberg, hat eine Vision: Anstelle von fünf kleinen Buden will er auf der Theresienwiese eine "Bierburg" errichten, in der 6.000 Menschen Platz finden. Er ist überzeugt, dass das Oktoberfest auf diese Weise Besucher aus der ganzen Welt anlocken werde. Es gibt nur ein Problem: Die Wiesn-Plätze sind seit Generationen an einige Wirtsfamilien verpachtet. Mit Hilfe eines korrupten Stadtrats (Michael Kranz) bekommt Prank den Zuspruch für vier Plätze. Die fünfte Bude wird von Ignatz Hoflinger (Francis Fulton-Smith) betrieben, einem der wenigen Wirte, die ihr Bier selbst brauen. Dank eines kaltblütigen Meuchelmords ist auch dieses Problem schließlich gelöst, und Prank sieht sich am Ziel; aber das etablierte Münchener Bierkartell ist nicht bereit, den Emporkömmling zu dulden.

"Bier und Blut" lautete der Arbeitstitel des Projekts, und blutig geht es zwischendurch in der Tat zu. Trotzdem bildet der Kampf ums Oktoberfest bloß den Rahmen für mehrere dramaturgisch glaubwürdig miteinander verknüpfte Ebenen. Da gibt es zum Beispiel eine "Romeo und Julia"-Geschichte, weil sich Pranks Tochter Clara (Mercedes Müller) nicht nur ausgerechnet in Hoflingers Sohn Roman (Klaus Steinbacher) verliebt, sondern sehr zum Zorn seiner Mutter auch noch schwanger wird. Die Witwe Hoflinger (Martina Gedeck) ist nicht die einzige Frau, die sich der ehrgeizige Prank zur Feindin macht; auch Clara sagt sich von ihm los. Zum größten Gegenspieler avanciert jedoch ein Großbrauer, den Maximilian Brückner als sinistren Strippenzieher verkörpert. Ein kleiner Trick sorgt dafür, dass dieser stets behandschuhte Stifter auch akustisch herausragt: Fast alle wichtigen Darsteller sind tatsächlich Einheimische; ausgerechnet den gebürtigen Münchner Brückner lässt Salonen jedoch Hochdeutsch sprechen.

Eine weitere wichtige Hauptfigur ist Colina Kandl (Brigitte Hobmeier), die sich mit einem cleveren Trick den Job als Anstandsdame im Hause Prank erschwindelt, nach Claras Schwängerung gefeuert wird und schließlich buchstäblich als Aushängeschild eines Wiesn-Wirts Furore macht. Und das sind bei Weitem nicht mal alle bedeutsamen Rollen, schließlich mischt auch die Schwabinger Bohème (personifiziert durch Vladimir Burlakow) noch mit. Zusätzliche Anknüpfungspunkte aus heutiger Sicht sind der Umgang der Gesellschaft mit Homosexualität und die Wurzeln des Rassismus: Der Mord an Hoflinger wird Kannibalen aus Polynesien in die Schuhe geschoben; die Samoaner sind die Attraktion des Oktoberfest im Jahr 1900.

All’ das hätte in anderer Hand gründlich schiefgehen können: mit viel zu vielen Handlungsebenen, klischeehaften Charaktere, irritierenden Regieeinfällen. Salonen hat daraus jedoch großes Fernsehen gemacht, das den Vergleich mit "Babylon Berlin" nicht scheuen muss; und das nicht allein wegen des enormen Aufwands. Auch schauspielerisch ist "Oktoberfest 1900" ein Ereignis, zumal die Hauptdarsteller dank der Gesamtlänge von 270 Minuten Zeit genug haben, die Persönlichkeiten ihrer Rollen vielschichtig und differenziert zu entwickeln. Keine einzige Figur ist durch und durch böse; nicht mal der von Martin Feifel als düsterer Engel verkörperte Mörder.

Ein fast noch größeres Vergnügen sind jedoch Salonens mutige Kontrapunkte. Spätestens im letzten Akt, wenn Prank mehr und mehr zum Protagonisten seines eigenen Alptraums wird, wirkt "Oktoberfest 1900" mit seiner frivolen Hommage ans Jahrmarktkino stellenweise wie eine Reminiszenz an Stanley Kubricks letzten Film "Eyes Wide Shut". Zwischendurch wallen Nebelschwaden durch München, als biege gleich Jack the Ripper um die Ecke. Schlüssig eingesetzte Drohnenaufnahmen sorgen für eine göttliche Perspektive, Zeitsprünge und clevere Anschlüsse für effektvolle Momente; und dann erklingt völlig unerwartet "I Want It Darker" von Leonard Cohen, das sich auf verblüffende Weise genauso gut in die Atmosphäre einfügt wie die Richard-Wagner-Zitate. Das gilt naturgemäß erst recht für die "folklorefreie Volksmusik" des Duos Dreiviertelblut (Sebastian Horn, Gerd Baumann), deren Lieder zuletzt großen Anteil an der Kurzweiligkeit der Amazon-Serie "Der Beischläfer" hatten. Ansonsten sorgt jedoch Michael Klaukien mit großer Kinomusik für die passende Untermalung; auf diese Weise ist die Serie nicht nur optisch, sondern auch akustisch eine Wucht. Die ARD zeigt die Serie dienstags in Doppelfolgen; in der Mediathek ist sie bereits komplett zu sehen.