TV-Tipp: "Unterleuten - Das zerrissene Dorf" (ZDF)

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TV-Tipp: "Unterleuten - Das zerrissene Dorf" (ZDF)
9.3., ZDF, 20.15 Uhr
Es gibt nie bloß die eine Wahrheit, sondern immer nur unterschiedlichen Wahrnehmungen der Wirklichkeit: Das ist letztlich die Quintessenz von Juli Zehs Roman "Unterleuten".

Die Autorin beschreibt die Ereignisse in einem brandenburgischen Dorf aus immer wieder wechselnden Perspektiven; außerdem erstreckt sich der Erzählbogen über drei Jahrzehnte. Es wäre völlig unmöglich gewesen, der Vorlage im Rahmen der üblichen neunzig Fernsehfilmminuten gerecht zu werden. Die beste Entscheidung des ZDF war daher der Entschluss, der Produktion 270 Sendeminuten einzuräumen. Ebenso konsequent, aber dennoch mutig war die Übernahme von Zehs erzählerischer Struktur: Die Geschichte hat zwar zwei zentrale Figuren, deren uralter Konflikt die Geschichte immer wieder befeuert, aber im Grunde gibt es über ein Dutzend Protagonisten und daher ebenso viele Handlungsstränge. Umso wichtiger war die prominente Besetzung; dank exzellenter Mitwirkender wie Thomas Thieme, Ulrich Noethen oder Charly Hübner besteht zu keinem Moment die Gefahr, den Überblick zu verlieren. Endgültig zu einem Fernsehereignis wird "Unterleuten" durch Buch und Regie: Magnus Vattrodt und Matti Geschonneck sind ein eingespieltes Team und gemeinsam mit allen wichtigen Fernsehpreisen ausgezeichnet worden (darunter je ein Grimme-Preis für "Liebesjahre" und "Das Ende einer Nacht", 2012/13).

Geschonneck ist ohnehin ein Meister seines Fachs, aber bei der Umsetzung des Drehbuchs hat er sich diesmal größtmögliche Zurückhaltung auferlegt. Sein seit zehn Jahren bevorzugter Kameramann Theo Bierkens hat für viele schöne Sommerbilder gesorgt, doch ansonsten wirkt der Film mit Ausnahme einer Szene, die sich als Wunschtraum entpuppt, wie die schnörkellose Rekonstruktion authentischer Vorfälle. Wenn er beginnt, ist die Welt noch in Ordnung, zumindest dem Anschein nach. Unruhe kommt in den Ort, als die Mitarbeiterin eines Windkraftkonzerns nach einem geeigneten Standort für einen Windpark sucht. Für das sterbende Dorf Unterleuten wäre dies dank der Gewerbesteuer ein Segen; dem Landbesitzer winken regelmäßige hohe Pachteinnahmen. Vordergründig ist es also die abgebrühte Karrierefrau Anne Pilz (Mina Tander) – im Roman übrigens ein Mann –, die den Stein ins Rollen bringt. Tatsächlich weckt sie jedoch unbeabsichtigt böse Kräfte, die knapp dreißig Jahre lang geschlummert haben und durch einen Hass genährt werden, der noch viel älter ist. Zwei Gebiete kommen in Frage. Das eine gehört dem Altkommunisten Kron (Hermann Beyer), das andere hat drei Eigentümer. Die jeweils größeren Teile sind im Besitz einer von der Insolvenz bedrohten Agrar-GmbH, deren Geschäftsführer Gombrowski (Thomas Thieme) Krons Erzfeind ist, sowie des gar nicht mal unsympathischen bayerischen Investors Meiler (Alexander Held). Um den Zuschlag für den Windpark zu bekommen, brauchen beide die zwei Hektar, von deren Existenz die zugereiste junge Linda (Miriam Stein) gar nichts wusste. Sie hat mit ihrem Freund (Jacob Matschenz) ein heruntergekommenes Anwesen gekauft und will dort ein Gestüt eröffnen. Dafür braucht sie eine zusätzliche Weide, die Meiler gehört; aber ohne Gombrowski, dem heimlichen Herrscher von Unterleuten, wird sie ihre Pläne nicht verwirklichen können.

Eine weitere entscheidende Figur ist ein promovierter Berliner Soziologe (Ulrich Noethen), der sich zusammen mit seiner Studentin Jule (Rosalie Thomass) und dem gemeinsamen Baby aufs Land zurückgezogen hat und sein berufliches Dasein nun dem Schutz des Kampfläufers (eine bedrohte Vogelart) gewidmet hat. Dieser Fließ steht für den Typus des Wutbürgers, der sich zwar für Ökologie engagiert, aber seine schöne Aussicht nicht durch Windräder verschandeln lassen will. Als ihm klar wird, dass seine Gegenspieler bereit sind, ihre Ziele auch mit unlauteren Methoden zu erreichen, ist es für Neutralität zu spät; es herrscht längst Krieg in Unterleuten, und zwischen den Fronten ist es am gefährlichsten.

Weil sich Vattrodt und Geschonneck viel Zeit nehmen durften, können sie jeder Figur gerecht werden, ohne in Klischees zu verfallen; und wenn das doch mal geschieht, ist es ironisch gemeint, wie etwa bei Krons Schwiegersohn (Bjarne Mädel), der an einem Theaterstück arbeitet. Außer verschiedenen Titelvarianten bringt er jedoch nichts zustande, weshalb er zum Ärger des benachbarten Bürgermeisters (Jörg Schüttauf) ständig Inspiration beim Rasenmähen sucht. Es ist ohnehin nicht zuletzt die emotionale Komplexität, die neben dem sorgsam aus west- und ostdeutschen Schauspielern (sowie der Österreicherin Stein) zusammengesetzten Ensemble den großen Reiz dieser Prestigeproduktion ausmacht. Mindestens so interessant wie die Fehde zwischen Gombrowski und Kron ist die Feindschaft zwischen Gombrowskis Gattin (Christine Schorn) und seiner unerfüllten Liebe (Dagmar Manzel). Als sich der seit vielen Jahren schwelende Hass am Ende endlich Bahn bricht, wird aus der Geschichte endgültig eine Tragödie, zumal sich rausstellt, dass das jahrzehntelange Unglück gleich mehrerer Figuren auf Halbwahrheiten, Missverständnissen oder Lügen beruht.

Die Faszination des Dreiteilers resultiert vor allem aus der Entwicklung, die die Beteiligten durchmachen: Die junge Aussteigerin entpuppt sich als gerissene Verhandlerin, die sich ihren Sieg jedoch denkbar teuer erkaufen muss; der Patriarch, der ohnehin damit hadert, dass ihn alle für einen Schurken halten, wird über Nacht zu einem König ohne Land; sein finsterer Scherge, von Charly Hübner als böser Shrek verkörpert (der Schauspieler selbst bezeichnet die Figur als das "schwarze Loch" der Geschichte), muss seinen Entschluss, ein besserer Mensch zu werden, beinahe mit dem Leben bezahlen, weil ein bis dahin unbescholtener Dozent zum Monster mutiert.  Unter all’ diesen Menschen, die ausschließlich an sich selbst denken, ist der brave Bürgermeister der einzige, dem es tatsächlich ums Dorf geht; und trotzdem sind am Ende alle Verlierer. Das "Zweite" zeigt die drei Teile am 9.,11. und 12. März jeweils um 20.15 Uhr.