TV-Tipp: "Jenseits der Angst" (ZDF)

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TV-Tipp: "Jenseits der Angst" (ZDF)
16.9., ZDF, 20.15 Uhr
Eine Frau fürchtet, den Verstand zu verlieren, dabei sind die vermeintlichen Wahnvorstellungen Teil eines perfiden Komplotts.

Das ist seit der Uraufführung von Patrick Hamiltons britischem Drama "Gaslicht" vor gut achtzig Jahren ein immer wieder gern verwendeter Handlungskern. Das mehrfach adaptierte Stück - die bekannteste Version ist "Das Haus der Lady Alquist") von George Cukor (USA 1944) - ist begrifflich sogar in die Psychologie eingegangen: "Gaslighting" steht für den Vorsatz, einen anderen Menschen gezielt in den Wahn zu treiben.

Meist enthüllten die verschiedenen Variationen, unter anderem Robert Aldrichs Klassiker "Wiegenlied für eine Leiche" (USA 1964), die Verschwörung erst gegen Ende. Weil ein versiertes Publikum die Geschichte ohnehin früh durchschauen würde, wählt Thorsten Näter (Buch und Regie) für seinen herausragenden Thriller "Jenseits der Angst" einen anderen Weg: Heldin Lisa ahnt früh, was gespielt wird, hat aber keinerlei Beweise und muss zudem damit rechnen, wegen eines Unfalls mit Todesfolge und Fahrerflucht angeklagt zu werden.

Anja Kling ist eine ausgezeichnete Besetzung für die Hauptrolle, und das nicht nur, weil sie solche Gratwanderungen schon öfter verkörpert hat, etwa in "Verhängnisvolle Nähe" (2014, ZDF) als Kommissarin, die den eigenen Mann für einen Serienmörder hält, in "Kein Entkommen" als Frau, die Opfer einer sinnlosen Gewalttat wird, oder allen voran in "Es ist nicht vorbei" (2011) als ostdeutsche Klavierlehrerin, die einst als politische Gefangene im sächsischen Frauengefängnis Hoheneck saß und viele Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR in einem Neurologen ihren einstigen Peiniger zu erkennen glaubt. Eine ähnlich gute Wahl war Benjamin Sadler als vermeintlich treusorgender Gatte Ronald: Sadler hat in seiner langen Karriere so viele positive Figuren gespielt, dass er automatisch als Sympathieträger gilt; das hat schon seine Rolle als Serienmörder in "Das Nest" (2019), einem im Frühjahr ausgestrahlten vorzüglichen "Tatort" aus Dresden, so reizvoll gemacht.

Auch Näter inszeniert seinen männlichen Hauptdarsteller zunächst trotz gelegentlich berechnender Blicke als liebenden Ehemann, der sich nachvollziehbar Sorgen um seine Frau macht: Modedesignerin Lisa leidet in letzter Zeit unter einer Vergesslichkeit, die geschäftsschädigende Ausmaße annimmt; ausgerechnet jetzt steht das von ihrem Vater gegründete erfolgreiche Unternehmen vor dem Verkauf. Lisa kann es gar nicht erwarten, den Konzern endlich los zu sein, um sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren zu können, aber sie driftet immer mehr in den Wahn, hört Stimmen und leidet unter Panikattacken. Als sie während der Party nach einer Modenschau vor die Tür geht, sieht sie Ronald mit dem Model Karin (Svenja Jung) beim Sex im Auto. Sie stellt den Gatten vor den Gästen zur Rede, gibt der jungen Frau eine Ohrfeige, braust kurz drauf mit dem Auto davon - und überfährt das Model. Ronald entsorgt Auto und Leiche im Fluss, aber nun beginnt das Grauen erst richtig, denn Lisa hat mehrfach Halluzinationen der toten Karin, die wie eine Wiedergängerin nachts vor dem Fenster auftaucht.

Thorsten Näter ist seit über drei Jahrzehnten mit bis zu fünf Projekten pro Jahr ein äußerst vielbeschäftigter Autor und Regisseur. Bei einem derartigen Ausstoß ist zwangsläufig nicht alles erste Wahl; einige Reihenbeiträge waren auch mal reine Routine. Seine Thriller sind allerdings regelmäßig sehenswert; er hat auch "Verhängnisvolle Nähe" gedreht. "Jenseits der Angst" zeichnet sich vor allem durch eine exquisite Bildgestaltung aus. Mit Kameramann Achim Hasse verbindet Näter eine zwanzigjährige Zusammenarbeit; in dieser Zeit sind über vierzig gemeinsame Filme entstanden. Schon die erste Szene setzt einen markanten Akzent, als Lisa in einem wallenden roten Gewand wie eine Gestalt aus einem Fantasy-Film über ein Dach schwebt und sich schließlich in die Tiefe fallen lässt. Das Rot des Kleides ist nicht nur der letzte Farbtupfer des Films, der kurze Prolog gibt auch die Stimmung vor: Anschließend erwacht Lisa wie eine reanimierte Ertrunkene in einer Welt, die Näter und Hasse konsequent in stumpfe Grau- oder kühle Blautöne getaucht haben; kein Wunder, dass ihr das Jenseits erstrebenswerter erscheint, zumal Hasses Bildgestaltung eine ständige Bedrohung suggeriert.

Abgerundet wird die besondere Qualität des Films durch eine kongeniale Untermalung: Axel Donners Musik ist eine Hommage an die Tradition von Alfred Hitchcocks bevorzugtem Komponisten Bernard Herrmann und steht in einer Reihe mit dessen Kompositionen zu "Psycho" oder "Vertigo". Die ersten knapp vierzig Minuten von "Jenseits der Angst" sind ohnehin derart fesselnd und handwerklich von solch’ eindrucksvoller Qualität, dass der Film danach eigentlich nur noch verlieren kann. Näter verhindert das, indem er den inhaltlichen Schwerpunkt verlagert: Als die Katze aus dem Sack und Lisa ihrem Mann mit Hilfe des unscheinbaren IT-Experten Stefan (Moritz Grove) auf die Schliche gekommen ist, resultiert die Spannung vor allem aus der Frage, wie sie aus der Sache rauskommt. Beim angemessen packenden Finale geht’s nur noch ums nackte Überleben.