Aufbruch statt Angst

Der Tübinger evangelische Theologe Jürgen Moltmann.
© epd-bild/Jens Schulze
Der Tübinger evangelische Theologe Jürgen Moltmann prangert die Fälle von sexuellem Missbrauch in den Kirchen an.
Aufbruch statt Angst
Der weltweit renommierte Theologe Jürgen Moltmann gibt Impulse für gesellschaftliche und kirchliche Reformen
Es braucht Erneuerungen in Kirche und Gesellschaft, ist der Tübinger Theologe Moltmann überzeugt: Der 92-Jährige wünscht sich mehr Beteiligung in den Gemeinden, ein gemeinsames Abendmahl - und eine grüne Reformation.

"Die Hoffnung ist kleinlaut geworden" - attestiert derjenige, der sich mit der Hoffnung auskennt: Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann. Er wurde durch seine "Theologie der Hoffnung" weltberühmt. Der 92-jährige emeritierte Tübinger Theologieprofessor kommt, wie er selbst sagt, aus der Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre, als man begeistert war vom "dream" des Martin Luther Kings, und Willy Brandt in Deutschland "Mehr Demokratie wagen" wollte.

"Heute ist die Aufbruchsbereitschaft dem Verlangen nach Sicherheit gewichen. Wer nach Sicherheit verlangt, ist unsicher und hat Angst", schreibt er in seinem neuen Buch "Christliche Erneuerungen in schwierigen Zeiten", das am 22. Januar im Münchner Claudius-Verlag erschienen ist. Darin finden sich fünf Vorträge, die rund um das Reformationsjahr entstanden sind und reformerische Impulse für Kirche und Gesellschaft geben wollen.

Neue Streitkultur nötig

Beispielsweise fordert er eine "grüne Reformation in Theologie, Spiritualität und Lebensstil". Alle Menschen sollten die Erde wie ihren Nächsten und sich selbst lieben. Nach einer ökologischen Lesart der Schöpfungsgeschichte in Genesis 1 sei der Mensch das letzte Geschöpf Gottes und darum auch das abhängigste Geschöpf, das für sein Leben auf die Existenz der Tiere und Pflanzen, Luft und Wasser und Tages- und Nachtzeiten sowie das Licht angewiesen ist. Dies sollte den Menschen demütig machen. "Nicht uns ist die Erde anvertraut, wir sind der Erde anvertraut."

Neben einer grünen Reformation brauche es auch eine neue Diskussionskultur. "Wir müssen wieder lernen, Ja oder Nein zu sagen. Ein Streit kann mehr Wahrheit enthalten als ein toleranter Dialog. Wir brauchen eine theologische Streitkultur mit Entschlossenheit und Respekt. Warum? Um der Wahrheit Gottes willen!"

In der Beziehung zwischen evangelischer und katholischer Kirche bleibt für den Theologen das gemeinsame Abendmahl beziehungsweise die Eucharistie besonders wichtig: "Weil die Kirchenspaltung aus Exkommunikation von der eucharistischen Gemeinschaft hervorgegangen ist, ist die Gemeinschaft am Tisch Christi das Ziel der Reformation und aller ökumenischen Bemühungen."

Ob im Straßburger Münster oder auf Konferenzen - er selbst sei in jeder Kirche zur Kommunion gegangen und nie zurückgewiesen worden, sagt Moltmann. Sein praktischer Tipp: Gemeinsames Abendmahl feiern und anschließend diskutieren, was das Problem eines gemeinsamen Mahles ist. "Nach dem Essen und Trinken spricht es sich leichter als vorher mit hungriger und durstiger Seele". In der Ökumenischen Bewegung hätten er und andere die Erfahrung gemacht. "Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir zueinander", sagt der Ökumeniker.

Moltmann beschreibt die Jakobusgemeinde in Tübingen, zu der er gehörte und deren sonntägliche Gottesdienste immer gut besucht sind. Das Geheimnis der vollen Kirche bestehe darin, dass etwa 20 verschiedene Hauskreise regelmäßig den Gottesdienst mitgestalten und ihn vorbereiten. "Aus einer Betreuungskirche wurde eine Beteiligungsgemeinde." Dieser Beteiligungscharakter könnte auch für andere Gemeinden ein gutes Modell sein, findet der Theologe.

Gedanken zu Tod und Auferstehung

Immer wieder schimmert in dem Büchlein Moltmanns "Theologie der Hoffnung" hindurch: "Wer dem 'lebendigen Gott' vertraut, sieht die Welt nicht nur nach ihrer Wirklichkeit. Das tun die Realisten und sie kommen immer zu spät. Wer auf die Zukunft vertraut, sieht die Welt nach ihren Möglichkeiten", schreibt er - und führt als Beispiel den Ersten Weltkrieg an: Für lange Zeit erzählten Historiker die Geschichte dieses Krieges so, als wäre sie von schicksalhafter Notwendigkeit gewesen und als hätte es nicht anders kommen können. Dabei gab es Möglichkeiten zum Frieden, die damals nur keiner ergriff. "Also werden wir Möglichkeitssucher für das Leben und die Gerechtigkeit und vermeiden wir die erkennbaren Möglichkeiten für Tod und Vernichtung."

Der gebürtige Hamburger sitzt bereits an einem nächsten Kurztext, wie er verrät. Er handelt von dem Leben nach dem Tod. Seine These ist, dass die Menschen direkt in ihrer Todesstunde auferweckt werden und nicht erst aus ihrem Grab. "Direkt, wenn man stirbt, ist man bei Gott", so seine Überzeugung. "Nicht die letzten Dinge dieser alten Welt, sondern die ersten Dinge der neuen Welt sind Gegenstand der Hoffnung", schreibt er am Ende seines Buches. Ein Kernsatz, der angesichts des Todes eine ganz eigene Bedeutung erhält.