Schmusen gegen den Schmerz

Alltag im Tuli Luli Projekt in Łódź/Polen.
Foto: Sascha Montag/Zeitenspiegel
Alltag im Waisenheim in Łódź in Polen: Im großen Spielzimmer wird viel gekuschelt.
Schmusen gegen den Schmerz
Tuli Luli - "Schmusewiege" - ist ein außergewöhnliches Heim für verlassene Babys im polnischen Łódź. Die Neugeborenen erfahren Geborgenheit, Liebe – und sie finden neue Familien.
03.08.2018
Sascha Montag und Isabel Stettin

Im Streichel- und Spielzimmer sitzen vier Frauen auf dem flauschigen Teppichboden, jede hält ein Baby im Arm. Agnieszka Kozieł, 45 Jahre alt, beugt sich über Jagoda, massiert ihr das Bäuchlein und küsst die Füßchen. Jagoda, Blaubeere bedeutet das, blickt mit klaren Augen staunend in die Welt. Als sie kurz nach ihrer Geburt zu Tuli Luli kam, war sie abwesend. Sie hat nicht geweint, nicht geschrien, blieb mucksmäuschenstill. Für ihre Ersatzmama kein gutes Zeichen: Erst nach vielen ungehörten Rufen nach Aufmerksamkeit verstummen Babys. Wenn sie gelernt haben, dass niemand kommt, um sie zu trösten, zu füttern und zu tragen.

Agnieszka Kozieł ist eine Frau mit Kurzhaarschnitt und energischer Ausstrahlung, die immer zu lacht, ihre kristallbaluen Augen funkeln. Die Arbeit bei Tuli Luli, sagt sie mit warmer Stimme, ist ihre große Liebe, ihre Erfüllung. Sie kann Jagoda und den anderen Babys etwas geben, dass sie in den ersten Wochen ihres Lebens oft schmerzlich vermisst haben: Zuwendung und Zärtlichkeit, das Gefühl von tiefer Geborgenheit. Urvertrauen. Zu Agnieszka Kozieł wichtigsten Aufgaben gehören: singen, streicheln, schmusen, kuscheln und kitzeln. Medizin, die offenbar wirkt. Nach fünf Monaten in ihrem neuen Zuhause ist die kleine, früher so stille Jagoda ein aufgewecktes Kind. Wenn sie nicht Bauklötzchen gegeneinander schlägt, auf den Tisch trommelt oder auf dem Schoß von Agnieszka Kozieł Hoppe-Reiter spielt, robbt sie jauchzend von einer Pflegerin zur nächsten und geht wackelig die ersten tapsigen Schrittchen. Immer wieder schmiegt sie sich an ihre Ersatzmama auf Zeit.

Agnieszka Kozieł‚ bei der Arbeit, die sie als große Erfüllung sieht.

3.224 getrunkene Milchfläschchen, 218 verschlungene Portionen Babybrei, 207 Kilogramm verbrauchte Windeln. Die Anzahl der Küsschen, Umarmungen und Kuschelstunden: Ungezählt. Das ist die Bilanz eines gewöhnlichen Monats im Tuli Luli. Kaum irgendwo wird so viel geknuddelt, gespielt, gelächelt wie in diesem Heim für elternlose Säuglinge.

Auf der Fotowand im Flur lächeln zahnlose Babys. Schaukelstühle stehen in den Schlafzimmern, die Wände sind bemalt mit Vögeln und Bäumen, mit Wolken, Rehkitzen, Blumen. Überall liegen Decken, Kissen, Plüschtiere. Die Kleinen sollen sich behütet fühlen wie im Bauch ihrer Mutter, umhüllt von einem Kokon aus Wärme. Denn die Babys sind mit dem größtmöglichen Trauma ins Leben getreten: Sie wurden verlassen.

Das Heim ist für all jene Kleinen, deren Eltern nicht für sie sorgen wollen – oder es schlicht nicht können. Alle zehn Stunden bleibt in Polen ein Baby allein zurück. Die traurige Botschaft hängt an einem Plakat an der Bürowand der Leiterin Jolanta Kałużna. Ihre Eltern geben sie im Krankenhaus oder am "Fenster des Lebens" ab, dem polnischen Pendant zur Babyklappe. Nirgendwo sind es so viele Kinder wie in Łódź, der drittgrößten Stadt des Landes: allein hier 85 Babys jedes Jahr. Es trifft vor allem jene aus ärmlichen Familien. Davon gibt es in Łódź viele, seitdem zu Zeiten des Kommunismus die Textilindustrie, einst Nabelschnur der Region, zusammenbrach. Es sind Kinder von Müttern, die selbst niemanden haben wollte, Kinder von Müttern, die selbst verlassen wurden. Den denkbar schlechten Start ins Leben wollen die Pflegerinnen in Tuli Luli zum bestmöglichen machen. Die Winzlinge bleiben in dem Adoptionszentrum bis eine Familie sie zu sich nimmt, maximal zwölf Monate.

Der Flamingo schmückt als Markenzeichen die Fassade des Heims.

Das außergewöhnliche Heim hebt sich schon von außen von der Umgebung ab, eingeklemmt zwischen grauen Wohnblocks leuchten die nachtblauen Wände: Ein Flamingo ist auf die Fassade gestrichen, er umschlingt mit seinem rosafarbenen Vogelhals ein kleines Baby, schaukelt es im Tragetuch. In gewöhnlichen Kinderheimen gibt es viel zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit für Neugeborene, das weiß Jolanta Kałużna, 41, die Leiterin und Mutter von zwei Kindern aus Erfahrung: "vor allem im so prägenden ersten Lebensjahr."

Jolanta Kałużna spürt immer wieder schmerzlich: Die Narben, die im Babyalter entstehen, bleiben ein Leben lang. Die meisten adoptierten Kinder haben eine schwere Last mit sich zu tragen. Viele werden drogenabhängig, psychisch krank, bleiben beziehungsunfähig. Und viele finden als Erwachsene selbst nicht die Kraft, sich um ihre Kinder zu kümmern. "Es ist ein Teufelskreis." Denn ein Kind, das sich selbst überlassen bleibt, kann auch später Probleme haben, Bindungen einzugehen und Vertrauen aufzubauen. "Je früher wir anfangen, die Wunden zu heilen, desto größer ist die Chance für sie, ihr Trauma zu überwinden", sagt Jolanta Kałużna sanft. Darum hat sie 2016 hat sie Tuli Luli gegründet. An ihrem Schreibtisch laufen seitdem alle Fäden zusammen: Sie koordiniert Arbeitspläne, kümmert sich um die Finanzen, arbeitet das Personal ein. "Auch darum ist unsere Einrichtung kaum teurer, als gewöhnliche Kinderheime", sagt sie. Alle machen alles – wie eine Mutter: Fahrdienste, kochen, die Waschmaschine schleudert im Dauerlauf.

Projektleiterin Jolanta Kałużna hat im Jahr 2016 Tuli Luli gegründet.

Es ist ein einzigartiges und gleichermaßen simples Konzept, das bereits Pädagogen aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien in das kleine Kuschelparadies gelockt hat. Statt nur zwei Betreuer für zwanzig Kinder kümmert sich im Heim für verlassene Babys jede Pflegerin um maximal drei bis vier Babys zeitgleich, immer um dieselben. Die Frauen bleiben bis zu vierundzwanzig Stunden an der Seite der Babys. 

Die Mitarbeiterinnen sind ausgebildete Erzieherinnen, Krankenschwestern. Agnieszka Kozieł ist Physiotherapeutin – und sie hat die beste Ausbildung, die die Mitarbeiterinnen in Tuli Luli haben können: Sie ist Mutter. Doch sie und die anderen Festangestellten allein können nicht jedem Baby die stundenlange Hingabe schenken, die es braucht. Das Besondere darum: Ehrenamtliche "Kuschlerinnen" umsorgen die Kinder. Hundert Freiwillige haben sich gemeldet, als sie zum Start von Tuli Luli im Oktober 2016 über Facebook vom Schmusebedarf erfuhren. Knapp vierzig von ihnen sind geblieben: nach langen Gesprächen, Gesundheitstests, einer zwanzigstündigen Schulung: Wie halte ich ein Baby? Wie erkenne ich, was es braucht? Warum ist eine feste Bindung so lebenswichtig?

Am Abend stehen Baden, Ölen, Wickeln und Kämmen auf dem Programm von Agnieszka Kozieł.

Jede sanfte Berührung ist Seelennahrung. Wickeln, füttern, baden allein reichen nicht. "Ein Baby muss spüren: Die Welt ist ein sicherer Ort. Ich erhalte Hilfe von Erwachsenen, wenn ich sie brauche", sagt Anna Graczyk, 45, eine der Ehrenamtlichen. Sie hat sich mit Baby Mariusz auf die Couch gesetzt, hebt ihn in die Luft bis er jauchzt, lässt ihn fliegen, wiegt ihn sanft im Arm. "Jedes Kind braucht das Gefühl von Schutz, Nähe, Körperwärme und Verlässlichkeit." Gefühle, die den weiteren Lebensweg entscheidend mitbestimmen. Wie wichtig Körperkontakt ist, zeigen Untersuchungen an Frühgeborenen. Babys, die regelmäßig gestreichelt wurden, schreien weniger, sind aktiver, wachsen schneller, auch ihre Bewegungen entwickeln sich besser.

Doch der Mensch hat nicht nur das Bedürfnis, Liebe zu empfangen, sondern auch zu geben. "Eigentlich mache ich das aus purem Egoismus. Ich werde geliebt, akzeptiert, gebraucht", sagt Anna Graczyk. "Ich wollte helfen. Doch jetzt habe ich das Gefühl, noch mehr zurückzubekommen." Drei Mal pro Woche kommt sie nach Feierabend in das Kinderheim zur Schmusestunde. Als sie vor einem Jahr begann, bei Tuli Luli freiwillige Babykuschlerin zu werden, hätte Anna niemals gedacht, wie viel die wöchentlichen Streicheleinheiten ihr bedeuten. Für Anna ist es eine einfache Rechnung: Beide Seiten sind glücklich, beide gewinnen.

Wäre da nur nicht der Abschied. "Mein erstes Baby vergesse ich nie." Anna Graczyk zitiert einen Abschiedsbrief, den die Adoptiveltern an sie und die anderen Helferinnen geschrieben haben, ein Brief von ihrem Paulchen: "Danke dafür, dass ihr mich gehalten habt. Danke, dass ihr nachts an meinem Bettchen gestanden seid. Danke, dass ihr da wart, als ich euch gebraucht habe."

Im ersten Jahr haben 30 Babys von Tuli Luli neue Familien gefunden. Zum ersten Geburtstag haben sie sich alle getroffen – zu einem großen Fest. Zwei davon, das ist der größte Erfolg, kehrten nach einigen Monaten im Heim zu den leiblichen Eltern zurück. "Mit der Hilfe von Pädagoginnen und den Krankenschwestern von Tuli Luli haben sie es sich zugetraut", sagt Jolanta Kałużna. Weil Adoption eine Herausforderung ist, unterstützen die Angestellten von Tuli Luli die Eltern und Pflegefamilien – Wochen vorher und, wenn es sein muss, in Zukunft auch noch Jahre danach. "Im schlimmsten Fall wird ein Kind sonst ein zweites Mal verlassen und kann dann niemals der Welt vertrauen."

Den freiwilligen Babykuschlerinnen bedeuten die wöchentlichen Streicheleinheiten sehr viel.

Jedes Kind, das Tuli Luli verlässt, bekommt eine kleine Schatzkiste: vollgepackt mit Fotos, den ersten Söckchen, Erinnerungen, einem Tagebuch der ersten Monate. Viele der Mütter schreiben ihren Babys einen Abschiedsbrief, sie erklären, warum sie sie zurücklasen mussten. Manche legen ein Bild von sich bei, ein letzter Gruß. "Es hilft, wenn da nicht nur ein schwarzes Loch klafft, sondern wenn es Antworten gibt", sagt Agnieszka Kozieł: Sie weiß, wie schwer es ist, mit der Lücke umzugehen. Einer ihrer beiden vierzehnjährigen Söhne ist selbst ein Adoptivkind. Sie hat ihn mit zwei Jahren aus einem gewöhnlichen Heim geholt, in dem Jolanta Kałużna, die Gründerin der "Schmusewiege", damals gearbeitet hat. Seitdem sind die beiden enge Freundinnen. "Ich wäre dankbar gewesen, wenn mein Sohn an einem Ort wie diesen gelandet wäre", seufzt sie. "Damals waren die Pflegekräfte völlig überfordert, die Babys schlecht versorgt, in viel zu großen, schmuddligen Kleidern." Auch darum arbeitet Kozieł heute bei Tuli Luli. "Ich kann etwas zurückgeben – und etwas abgeben von meinem Glück als Mutter."

Jedes Mal ist da ein Stich im Herzen, wenn eines der Schützlinge geht, sagt auch Agnieszka Kozieł. Es wird aber überwogen von der Glückseligkeit und Dankbarkeit. Sie hat sich zum Füttern in eines der Schlafzimmer zurückgezogen. "Zwei Hände und zwei Füße sind einfach zu wenig", seufzt sie  – und lacht dann schon wieder. "Auch wenn das Herz groß genug für all die Kleinen ist." Mit den Zehenspitzen schaukelt sie sanft die Wiege vor sich, auf ihrem Arm hält sie Jolanda, die zufrieden ihre Milch schmatzt. Neben ihr im Gitterbettchen schläft ein Baby. Immer wieder streichelt sie ihm zart über das kleine Gesicht, sobald es anfängt, unruhig zu werden. Auch für Agnieszka Kozieł heißt es bald wieder Abschied zu nehmen. Die kleine Blaubeere wird in wenigen Wochen ein Jahr alt. Ihre neue Familie wartet schon.