Bei den muslimischen Minangkabau haben die Frauen das Sagen

Hochzeit bei den Minangkabau im Dorf Supayang, Westsumatra, Indonesien
Foto: Sascha Montag/Zeitenspiegel
Bei einer Hochzeit bei den Minangkabau im Dorf Supayang, Westsumatra, Indonesien bringt die Familie des Bräutigams Geschenke und Essen in das Haus der Braut mit.
Bei den muslimischen Minangkabau haben die Frauen das Sagen
Die Minangkabau sind die größte matrilineale Gesellschaft der Welt. Und sie sind Muslime. Anders als im klassischen Islam ist das Eigentum bei ihnen in den Händen der Frauen. Land wird immer von der Mutter an die Tochter vererbt. Einblicke in eine faszinierende Gesellschaft.
12.06.2018
Fritz Schaap (Text) und Sascha Montag (Foto)

In anderen islamischen Ländern gälte die Königin als glückliche Frau. Drei Söhne hat sie zur Welt gebracht. Für fast jede islamische Frau ein Segen Gottes. "So gesehen aber bin ich bin eine arme Frau", sagt Prof. Dr. Thaib, die Königin der Minangkabau, während sie auf der Terrasse ihres Hauses in Padang, in Westsumatra, steht und ihre Söhne verlegen lächelnd im Haus verschwinden. Auch sie lächelt. Eine Frau mit der Aura einer in Würde gealterten Grande Dame und dem Augenaufschlag einer großen Schauspielerin.

Während im Rest der islamischen Welt die Macht eher bei den Männern zu finden ist, halten es die Minagkabau anders. Hier haben die Frauen das Sagen. Sie sind die Familienoberhäupter und die Erben. Es ist ihr Name der bei der Hochzeit weitergegeben wird.

Die Minangkabau sind die größte matrilineale Gesellschaft der Welt. Und sie sind Muslime. Aber anders als im klassischen Islam ist das Eigentum bei den Minangkabau in den Händen der Frauen. Land wird immer von der Mutter an die Tochter vererbt. Nach der Heirat zieht der Mann ins Haus der Familie der Frau. Die Frau ist auch für die Finanzen zuständig, und in der Königsfamilie kommt der Thronerbe immer aus der Linie der Frau.

Die Braut (Mitte) begrüßt die Verwandschaft.

Thaib ist die 33. Nachfahrin des ersten Königs, Adityawarman. Er gründete das Königreich der Minangkabau im 10. Jahrhundert. 1833 wurde der letzte König von den Holländern abgesetzt und ins Gefängnis geworfen. Seither gibt es offiziell keine Könige mehr, aber die Königsfamilie stellt weiter einen Repräsentanten. "Unser Geschlecht hat immer noch Macht", sagt Thaib. Nicht mehr politisch, aber die Kultur spiele bei den Minangkabau eine große Rolle. 75 kleine Könige gibt es im Reich der Minangkabau, ihre Familie stellt deren Oberhaupt.

Offiziell hat heute die indonesische Regierung die Macht. Aber in vielen Bereichen wird ein Gewohnheitsrecht der Minangkabau angewandt, das Adat. "Es regelt das alltägliche Leben, Sterbefälle, Geburten, Hochzeiten, Hausverkäufe", erklärt Thaib. Das Siedlungsgebiet der Minangkabau wird von sogenannten Adat-Räten verwaltet.

Traditionell sitzen dort Männer und Frauen zusammen. Die Königin ist aufgestanden, um Fotos ihres alten Clanhauses in den Bergen zu holen. Kunstvolle Arabesken, fein gearbeitete Holzschnörkel zieren das Haus, dessen Dach an beiden Enden nach oben ragt wie die Hörner der Büffel.

Machtworte gibt es nicht

"Hier auf dieser Seite sitzen bei den Versammlungen die Männer und dort drüben die Frauen. Zu gleichen Teilen." Und wenn man sich bei Fragen nicht einig sei, dann wiege das Wort der Frau schwerer als das ihres Mannes. "In Clanfragen wie in der Familie." So die Königin. Redet man mit anderen Adat-Räten, hört man allerdings, dass es doch oft die Männer sind, die die Entscheidungen treffen.

Die Anthropologin Peggy Reeves Sanday, Professorin an der Universität von Pennsylvania und Expertin für die Minangkabau, sagt, dass auch im Matriarchat oft politische Entscheidungen von Männern getroffen werden. Anders aber als in anderen Gebieten. "Die Menschen sitzen zusammen und tauschen Argumente aus", so die Anthropologin. Und wo sich in patriarchalen Gesellschaften oft ein einzelner Mann durchsetze, der es schafft, die Gruppe zu kontrollieren, da sei bei den Minangkabau die Entscheidungsfindung konsensbasiert, Machtworte gebe es nicht, hier müssten sich alle Beteiligten auf eine Lösung einigen, auch wenn nur die Männer unter sich seien.

Deshalb, so Sanday, dürfe man sich das Matriarchat der Minangkabau nicht so sehr als eine Gesellschaft vorstellen, in der die Frauen herrschten. Sondern eher als eine Gesellschaft, die weitgehend ohne Herrschaft auskomme, in der es ein Gleichgewicht gebe.

Das Brautpaar im festlich geschmückten Haus der Braut mit Mutter, Schwester Wati und deren Kindern Assyifa und Aisya.

"Man kann das mit einer Firma vergleichen", sagt Thaib, "Die Frau ist die Eigentümerin, der Mann der Manager. Und in dieser Balance funktioniert unsere Gesellschaft."

Im Rest von Indonesien aber rümpft man die Nase. Und im gesamten arabisch-islamischen Raum, wo der Mann das unumstrittene Oberhaupt der Familie ist, religiös legitimiert, sieht man das sowieso anders.

"Man muss einen Unterschied machen zwischen islamischen und arabischen Kulturen. Der Islam macht die Frau nicht schlecht", sagt Thaib "Es ist die arabische Tradition, nicht der Islam, die die Frauen unterdrückt."

Um das stolze Erbe ihres Volkes zu bewahren, hat Thaib die Bundokanduang-Gruppe gegründet. 29 Männer und Frauen, die durch das Land reisen, um in Schulen, Clanhäusern, auf Plätzen und in Rathäusern die matrilineare Tradition auch bei den Jungen am Leben zu erhalten, damit es Ereignisse wie das am nächsten Tag noch lange geben wird.

Die Vorbereitungen für die bevorstehende Hochzeit sind im Gange. In die Bananenblätter wird später Essen eingwickelt.

Überall um das Dorf Supayang herum eilen am nächsten morgen Frauen in sorgsam gelegten Gewändern durch den Dschungel. In den Händen halten sie Sirih-Blätter, hart, wie die Wedel der Bananenpalmen, und Stücke der Pinangfrucht, die auf den Blättern liegen. Sie laufen durch die Dörfer, klopfen an Türen, und verteilen ihre kleinen Geschenke. Denn morgen heiraten Refli Muniza und Afrizal. Und alle sollen kommen.

Das Dorf Supayang liegt im hügeligen Dschungel Westsumatras. Drei Stunden entfernt von Padang. Dichte Wälder, über denen oft der Neben steht, ziehen sich über das Land.

Im Dorf haben Wati und Aisya das Haus der Braut geschmückt. Wati ist 42 und die Schwester der Braut, Aisya ist Watis Tochter. Sie sind aus der nahe gelegenen Stadt Solok angereist, wo Wati einen Kleiderladen betreibt.

Die Männer sitzen am Rand und schauen dem Treiben zu. Aisya lächelt. "Bei uns", erklärt sie, "stehen die Frauen höher. Da müssen die Männer folgen." Dann macht sie eine Pause und liest ein paar Nachrichten auf ihrem Telefon. "Aber ich fühle mich den Männern eigentlich gar nicht so überlegen. Eigentlich sind wir doch alle gleich."

Das Matriarchat hatte immer Bestand im Land der Minangkabau – unter Besetzungen, unter der Kolonialherrschaft und unter dem Islam, der omnipräsent ist in Form von Moscheen, Kopftüchern und den 99 Namen Allahs, die auf Plastikschildern die verschlungenen Straßen durch die grünen Hügel und Berge Westsumatras säumen.

Jede Menge Essen muss gekocht und zubereitet werden.

Die Kultur der Minangkabau ist nicht einzigartig. In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder Martriarchate, so bei den Khasi in Ostindien oder bei den nordamerikanischen Irokesenvölkern. Aber die Minangkabau bilden die größte noch existierende matrilineare Gesellschaft. Ungefähr drei Millionen Menschen zählen sie.

Den Islam, in dem die Frauen viel weniger Rechte besitzen als die Männer, sei es in Scheidungs- oder in Erbschaftsfragen, haben die Minangkabau hier auf Sumatra offenbar ganz nebenbei schon vor Hunderten von Jahren modernisiert.

Wati läuft mit schnellen Schritten über den Hof. Eine Bühne steht vor dem Haus, Holzplanken auf alten, blauen Ölfässern, Plastikplanen sind wie Baldachine gespannt. Die Eltern der Braut haben das alles gemietet, und nun drängen sich die Frauen der Familie auf dem Vorplatz des Hauses und in der offenen Küche. In großen dampfenden Töpfen, die auf schweren, dreibeinigen Gestelle stehen, gart Rindfleisch in Kokossud, Hühnerbrüste, Kürbisse, Reis und Kartoffeln.

In den drei kühlen Räumen des Hauses, die alle mit rotem, mit goldenem Stickwerk verziertem Tuch ausgehangen sind, werden die letzten Vorkehrungen getroffen. Im Hauptraum steht ein ebenfalls roter Thron, auf den sich Braut und Bräutigam später setzen werden. Hinten im Schlafzimmer wird die Braut geschminkt.

Die Braut wird geschminkt.

Draußen wird die Musikanlage aufgebaut, und eine Truppe Musiker mit Trommeln und einer kleinen Flöte sitzen auf dem Boden im Schatten des Nebenhauses und rauchen. Hinten am Hang glänzen die Wedel der Palmen golden in den Sonne.

Wati steht eine Holzsäule gelehnt und gibt Anweisungen und kontrolliert das chaotische Treiben. "Im Alltag", sagt sie und stimmt der Königin zu, "sind die Frauen die  Besitzer, die Männer die Manager." Heute aber managt sie die Hochzeit ihrer Schwester auf den Besitzungen ihrer Familie. Hochzeit, das ist Frauensache bei den Minangkabau.

Aber sieht sie keinen Widerspruch zu ihrer Religion? Ja, sagt Wati, es stimme schon, Religion und Kultur sein hier widersprüchlich. Die Kultur allerdings sei zuerst dagewesen. Die Kultur, sagt sie, sei womanpower, und benutzt lächelnd die englischen Worte, die Religion, das sei manpower. "Aber die Kultur ist wichtiger." Und so behalten die Frauen hier in den Bergen das Sagen.

Unter dem Radar bleiben

Natürlich, sagt sie, gäbe es Probleme mit anderen religiösen Gruppen hier in Indonesien. Gerade auch mit den Salfiten, die auf der gleichen Insel, im Norden Sumatras, ein strenges Regime führen, eine eigene Scharia-Polizei betreiben. Aber man versuche, den Anfeindungen aus dem Weg zu gehen und unter dem Radar zu bleiben.

Probleme mit den Strenggläubigeren in Indonesien halten die Minangkabau schon immer aus. Selbst einen über 30-jährigen Krieg gewannen sie im 19. Jahrhundert gegen die wahhabitisch beeinflussten Padri-Krieger. Deswegen, so glauben sie hier, wird sich auch in Zukunft bei ihnen nichts grundlegend am Matriarchat ändern.

Im festlich geschmückten Haus sitzt das Brautpaar auf dem Thron.

Im festlich geschmückten Haus sitzt später das Brautpaar auf dem Thron. Der Raum ist zu gleichen Teilen gefüllt mit Männern und Frauen. Die Männer sitzen auf der rechten Seite, die Frauen auf der linken. Schalen mit Essen werden serviert. Reis. Huhn. Rindfleisch. Gegessen wir mit den Händen. Das ist Tradition. Genauso wie es Tradition ist, dass Männer den Frauen den Antrag machen und die Mütter dann entscheiden, ob der Bewerber auch gut genug ist.

Rauch weht durch die Fenster hinein. Ein paar alte Frauen haben ein Feuer entfacht und flämmen kurz die Blätter der Bananenpalmen an, in die sie den gekochten Reis verpacken, der den Gästen als Geschenk gereicht werden wird. Eine Henne mit ihren Küken stürmt durch den Rauch und Wati ruft den Männern, die noch immer rauchend in einer Ecke hocken, zu, dass sie mit anfassen sollen. Widerworte gibt es keine.

Mythen ums Matriachat

Es gibt verschiedene Mythen hier, wo das Matrilineare herkommt. Ein Mythos besagt, dass man früher nie genau wissen konnte, wer der Vater eines Kindes ist, die Mutterschaft aber ist sicher. So war es sinnvoller, die Blutlinie der Frau als das Maß der Dinge zu nehmen.

Anthropologen vermuten, die matrilinearen Strukturen, die Strukturen weiblicher Herrschaft, seien entstanden, weil die Männer – um Handel zu treiben – monatelang unterwegs waren, während die Frauen zuhause blieben und sich um den Hof kümmerten.

Und so wird, wie es immer gewesen ist, in der Woche, die auf das Fest folgt, die Familie des Bräutigams  sein Hab und Gut in das Holzhaus bringen, vor dem nun am Nachmittag eine Tanzgruppe aus dem Dorf der Menge einheizt. Nicht die Braut zieht hier zur Familie des Bräutigams, der Bräutigam zieht zur Familie der Braut. "Diese ‚Häusliche Gewalt‘, von der alle sprechen", sagt deswegen eine der Tanten, "die gibt es hier nicht. Das soll sich mal einer trauen, im Haus der Frau!"