ESC 2017: den Pulsschlag Europas spüren

Eurovision Song Contest in Kiew
Foto: Jens Gesper
ESC 2017: den Pulsschlag Europas spüren
Heute ist der 13. Mai - und damit der Final-Tag des 62. Eurovision Song Contests in Kiew und in der Ukraine. Aber geht das überhaupt in diesem Land, wo allein vorgestern, Luftlinie von Kiew 650 Kilometer entfernt, zwei ukrainische Soldaten getötet und sechs verwundet wurden?

"Die zählebigste Stadt der Ukraine. Die Kastanien stehen voller Kerzen - rosagelbe Federbusch-Knallbonbons." Das schrieb der russische Dichter Ossip Mandelstam 1925 in seinem Prosastück "Rauschen der Zeit" über Kiew. Die rosagelben Knallbonbons schmücken auch derzeit die Kastanien in Kiew - und hört sich nicht allein diese Beschreibung nach einem perfekten Accessoire für den ESC als eine der zählebigsten europäischen Traditionsveranstaltungen an?

Auch wenn hier nicht nur Kastanien stehen, sondern gerade rund um den Majdan Nesaleschnosti, den Kiewer Unabhängigkeitsplatz, Kreuze, viel zu viele Kreuze, die genau wie zahlreiche kleine Schreine an junge und an alte Menschen aus vielen Landesteilen erinnern, die bei den Bürger-Protesten im Winter 2013/14 - also vor gerade einmal dreieinhalb Jahren - in der heutigen Eurovisionsstadt getötet wurden. Am Maidan steht auch das Haus der Gewerkschaften der Ukraine, das im Februar 2014 ein Raub der Flammen wurde. Die Brandruine ist verhängt mit haushohen Planen, in Englisch und in Ukrainisch steht dort ein Satz, der auf Deutsch heißt: Freiheit ist unsere Religion. Eine seltsame Formulierung in der Stadt mit ihren vielen blitzblanken goldenen Kirchenkuppeln. Ganz frisch für die Eurovision wurden die beiden riesigen Transparente aufgehängt. Das Gewerkschaftshaus war das Hauptquartier der westlich orientierten Maidan-Aktivisten, als es niedergebrannt wurde. Die Freiheit - dafür kämpften sie; zuvor war das Haus auch schon mit Transparenten verhängt, auf denen "Ruhm für die Helden der himmlischen Hundert" gefordert wurde. Gemeint waren die Menschen, die am Maidan umkamen. Jetzt gerade waren auch wieder viele Menschen am Maidan, um am 9. Mai 2017 an den Sieg über die Nazis vor 72 Jahren zu erinnern. Darunter viele aktive Soldaten in ihren Uniformen, nicht nur gestandene Männer, sondern auch noch ganz junge mit ihren Familien.

Aus dem Maidan wurde zum Auftakt der Bürger-Proteste im November 2013 der Euromaidan. Eine Vorsilben-Ergänzung, die nach Freiheit verlangte und Frieden wollte. Genau wie die Eurovision, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zum Austausch von Hörfunk- und Fernsehprogrammen über europäische Landesgrenzen hinweg gegründet wurde und der Welt den Grand Prix d‘Eurovision de la Chanson schenkte. Elf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit all seinen Gräueln, die die deutschen Nazis über ihr eigenes Land und ganz Europa gebracht hatten, luden die Schweizer Belgier, Deutsche, Franzosen, Italiener, Luxemburger und Niederländer zu Liedvorträgen ein. Wer miteinander Radio hört und Fernsehen schaut, sammelt vielleicht räumlich voneinander getrennt am Ende doch gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse. Und inzwischen singt man längst nicht mehr nur füreinander, sondern miteinander. Vorneweg die Fans in der Halle - denn die kämen nie auf die Idee, nur das eigene Lied zu unterstützen. Wieso sollte ich nur drei Minuten Freude haben, wenn die Alternative dazu ein ganzer Abend Spaß ist? Wer den Pulsschlag Europas spüren möchte, geht sonntags gesittet zur Demo oder erlebt ihn hier einmal im Jahr mit Menschen aus den unterschiedlichsten Ecken der europäisch inspirierten Erde, deren Herz im gleichen Takt schlägt.

Es ist gut, dass die Eurovision 2017 in Kiew ist, um miteinander zu feiern, dass die Ukraine definitiv ein Teil Europas ist. Und um die Vielfalt Europas zu zelebrieren, ganz im Sinne des 2017-ESC-Leitmotivs: Celebrate Diversity. In diesem Fahrwasser haben sich diesmal alle, die eine andere Sprache als Englisch singen, fürs Finale qualifiziert. Die Jurys und das Televoting der 42 Teilnehmer-Länder haben in diesem Jahr ausschließlich englisch-sprachige Lieder in den beiden Halbfinals aussortiert, übrigens leider auch die Schweizer, die als Team wahrscheinlich am ehesten die Qualifikation als rosagelbe Federbusch-Knallbonbons hätten schaffen können.

Auf der eurovision.de-Homepage gibt es fast alle wichtige Information zum Finale heute Abend. Die einzige Information, die fehlt, betrifft die Hand-Bein-Arbeit von Startnummer neun: Direkt nach der Phrase "Occidentali‘s Karma" beide Arme in die Luft, auf eins den Scheibenwischer nach rechts, auf zwei nach links, auf drei nach rechts, auf vier nach links und gleichzeitig linkes Bein ungelenk in die Luft anwinkeln, auf fünf nur Arme nach rechts, auf sechs nach links, auf sieben nach rechts und auf acht Arme nach links und rechtes Bein ungelenk in die Luft anwinkeln. Zu kompliziert? Dann:

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Vielleicht ja für die Reprise am Ende, wenn der ESC-Sieger 2017 nochmal singen darf. Schließlich hat Francesco Gabbani mit "Occidentali‘s Karma" im Frühjahr ja schon das Sanremo-Festival gewonnen, den defintiv zählebigsten Musik-Wettbewerb unserer Breiten.