"Eine neue Balance zwischen Emotionen und Fakten finden"

Heinrich Bedford-Strohm steht am Strand bei Cagliari auf Sardinien.
Foto: epd-bild/Thomas Lohnes
Heinrich Bedford-Strohm bei einem Besuch auf Sardinien im August 2016.
"Eine neue Balance zwischen Emotionen und Fakten finden"
Die Kirchen sollten sich einmischen, wenn es darum geht, die Not von anderen Menschen zu überwinden, sagt EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm. Im Interview spricht er über Syrien, die deutsche Willkommenskultur und Respekt im öffentlichen Diskurs.

Die humanitäre Lage in Aleppo bleibt dramatisch. Kann der Westen nicht mehr tun?

Heinrich Bedford-Strohm: Die verzweifelte Lage in Aleppo bewegt uns zutiefst. Ich denke jeden Tag an die Menschen in den zerstörten Gebieten und bete für sie. Es ist ein Trauerspiel, wie die Menschen in Aleppo Opfer internationaler Machtpolitik werden.

Was können die Kirchen tun?

Bedford-Strohm: Wir werden nicht nachlassen darauf hinzuweisen, was passiert, und mithelfen, dass wir nicht abstumpfen. Als Kirchen sind wir ein internationales Netzwerk und können versuchen, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Aber wir sind weder Diplomaten noch Politiker.

"Angst, Hass und Ausgrenzung werden gerade am Markt der Meinungen zu einer giftigen Geschichte zusammen gerührt. Das ist nicht meine christliche Geschichte für unser Land"

Aus den umkämpften Städten in Syrien und Nordirak drohen die Christen komplett vertrieben zu werden. Welche Zukunft sehen Sie für Christen in der Region?

Bedford-Strohm: Die Frage, ob Christen dort den Mut haben zu bleiben, hängt in hohem Maße davon ab, ob sie sich in der Zukunft sicher fühlen können. Ihnen ist mehrfach gesagt worden: Jetzt werdet ihr sicher sein. Und immer wieder sind sie enttäuscht worden. Wir müssen alles tun, was wir können, um den Menschen dort humanitär beizustehen. Und in den Flüchtlingslagern müssen die Bedingungen lebenswürdig sein.

Angesichts der vielen derzeitigen Konfliktherde auf der Welt: Wie kann man der Weihnachtsbotschaft von Frieden und Hoffnung Gehör verschaffen?

Bedford-Strohm: Selten war es wichtiger zu entscheiden, aus welchen Geschichten wir in unserem Land leben wollen. Angst, Hass und Ausgrenzung werden gerade am Markt der Meinungen zu einer giftigen Geschichte zusammen gerührt. Das ist nicht meine christliche Geschichte für unser Land. Wir Christen leben aus einer uralten guten Nachricht von Hoffnung, die so viele von uns seit Kinderzeiten kennen. Fürchtet Euch nicht! Friede auf Erden! Das ist die Botschaft des Engels zu Weihnachten. Und diese Botschaft ist Weihnachten 2016 wichtiger denn je. Ich wünsche mir ein Land, das seine Kraft aus der Hoffnung auf eine bessere Welt schöpft. Es macht einen riesigen Unterschied, ob man aus Zuversicht oder Angst lebt. Das kann uns Weihnachten in Erinnerung rufen.

Weihnachten 2015 stand ganz im Zeichen der Flüchtlingskrise. Heute leben zum Christfest Familien immer noch in Turnhallen. Viele warten auf Sprachkurse. Die Integration in den Arbeitsmarkt bleibt schwierig. Wo klemmt es?

Bedford-Strohm: Die Integration bleibt eine Herausforderung. Es ist eine riesige Leistung erbracht worden, auch von den Behörden. Dafür muss man Danke sagen. Gleichzeitig ist allen Ehrenamtlichen zu danken, die bis heute aktiv sind. Aber ich bekomme natürlich auch Signale über Hürden, die es bei der Integration von Flüchtlingen gibt, etwa bei Arbeitserlaubnissen. Manches lässt sich nicht von heute auf morgen lösen, aber es geht voran.

Waren die Kirchen in ihrer gelebten Willkommenskultur zu blauäugig?

Bedford-Strohm: Nein, damals wie heute geht es einzig darum, Hilfe für Menschen in einer konkreten Notsituation zu leisten. Es  war wichtig, ihnen unmittelbar beizustehen. In der humanitären Ausnahmesituation des Sommers 2015  durfte man nicht zuerst die Frage stellen, ob in fünf oder sechs Monaten die institutionellen Prozesse bewältigt sind.

In Deutschland gibt es immer wieder Vorwürfe, christliche Flüchtlinge würden in Einrichtungen diskriminiert oder gar drangsaliert. Die Organisation Open Doors wirft den großen Kirchen vor, da nicht genau hinzusehen. Wie sehr trifft Sie das?

Bedford-Strohm: Jeder Fall, der sich da bewahrheitet, ist ein Fall zu viel. Jede Art von Rechtsverstoß, der andere trifft, ist nicht hinnehmbar. Wir haben als Kirchen eine ökumenische Erklärung abgegeben, in der wir klar Stellung bezogen haben. Ich hatte auch Gelegenheit, persönlich mit dem Geschäftsführer von Open Doors zu sprechen. Wir setzen uns kontinuierlich für Menschen ein,  die unmittelbar bedroht sind, bei uns und anderswo.

Emotionen wühlt auch ein Mordfall in Freiburg auf, bei dem ein junger Afghane tatverdächtig ist. Haben Sie Verständnis dafür, dass dies Vorbehalte gegen Flüchtlinge schürt?

Bedford-Strohm: Ich habe natürlich Verständnis dafür, dass dieser Fall Schrecken auslöst, so wie jeder Fall von Mord oder Vergewaltigung Schrecken oder auch Angst auslöst. Die Menschen, die hierhergekommen sind, dürfen aber nicht in ihrer Gesamtheit für diese fürchterliche Einzeltat haftbar gemacht werden. Aber der Fall ist fürchterlich.

"Rechtsverfahren wären jedoch sinnlos, wenn das Ergebnis nicht auch umgesetzt würde"

Die CDU fordert in einem Leitantrag eine raschere Abschiebung nicht anerkannter Asylbewerber. Ist dieser Weg richtig?

Bedford-Strohm: Es ist richtig, das Recht zu beachten. Jeder Asylbewerber hat einen Rechtsanspruch auf eine gewissenhafte Prüfung. Wenn ein Verfahren fair war und nach rechtsstaatlichen Kriterien zu Ende geführt worden ist, muss es auch die Möglichkeit der Rückführung geben. Wir haben auch Möglichkeiten, die freiwillige Ausreise im Einzelfall zu unterstützen und zu begleiten.

Auch wenn es zu sozialen Härten kommt?

Bedford-Strohm: Jede Rückführung ist eine Härte. Denn Menschen, die in ihr Land zurückkehren müssen, sind oft noch verzweifelter als vor ihrer Flucht, weil sie Schleppern ihr ganzes Vermögen überlassen haben und jetzt mit leeren Händen zurückkommen. Rechtsverfahren wären jedoch sinnlos, wenn das Ergebnis nicht auch umgesetzt würde. Die Debatte um ein Einwanderungsgesetz hat versucht, solchen Schicksalen Rechnung zu tragen.

Es ist in der Öffentlichkeit ruhig geworden ums Kirchenasyl. Trägt der mit dem Bundesinnenminister gefundene Kompromiss dazu bei, der eine engere Abstimmung zwischen dem Bundesamt und den Kirchen vorsieht?

Bedford-Strohm: Wir sind miteinander im guten Gespräch. Im Verhältnis zur Flüchtlingszahl insgesamt ist die Zahl der Kirchenasylfälle verschwindend gering. Es sind so eng begrenzte Fälle, dass man nicht sagen kann, dass dadurch der Rechtsweg geschwächt würde.

Die Bundeskanzlerin hat sich gegen Vollverschleierung von Frauen ausgesprochen und ein Verbot gefordert, "wo immer das rechtlich möglich ist". Wie stehen Sie zu dem Vorstoß?

Bedford-Strohm: Vollverschleierung befremdet mich persönlich. Der Kontakt von Angesicht zu Angesicht ist für die Kommunikation unverzichtbar. Rechtsdebatten dürfen jetzt aber nicht das ersetzen, worauf es bei Integration wirklich ankommt: miteinander ins Gespräch zu kommen, sich zu begegnen. Zu den Gepflogenheiten in unserem Land gehört es, dass wir einander ins Gesicht sehen können, einander auf Augenhöhe begegnen. Wenn das in den Herzen derer verankert wird, die anderes gewohnt sind, ist viel mehr erreicht, als mit jeder rechtlichen Regelung. Dort, wo auf die persönliche Erkennbarkeit nicht verzichtet werden kann - etwa vor Gericht, in Schulen oder Kindergärten oder bei Verkehrskontrollen - wird eine gesetzliche Vorschrift sinnvoll sein.

"Unsere Aufgabe als Kirchen ist es, die klaren Grundorientierungen, für die wir als Christen stehen, in die öffentlichen Debatten einzubringen"

Sie sind in der Frage Ihres religiösen Symbols - des Kreuzes- in den vergangenen Wochen in die Kritik geraten. Bei einer ökumenischen Pilgerreise ins Heilige Land hatten Sie und die übrigen Bischöfe der Delegation auf dem Tempelberg und an der Klagemauer ihre Kreuze auf Bitten der muslimischen bzw. jüdischen Autoritäten abgelegt. Warum?

Bedford-Strohm: In der damaligen Sondersituation am Sukkotfest auf dem Tempelberg und an der Klagemauer hatten wir angesichts einer plötzlich sehr angespannten Situation leider nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen. Entweder konnten wir riskieren, dass wir als christliche Bischöfe konfliktverschärfend wirken – ein Jahr vorher hatte es am gleichen Tag Tote auf dem Tempelberg gegeben. Oder wir konnten eben der gut meinenden Bitte unserer Gastgeber nachkommen, ohne Kreuz an die Stätte der jeweiligen Religion zu gehen. Beides waren in dieser unvorhergesehenen Lage schlechte Optionen.

Wie hätten Sie sich verhalten, wenn Ihnen diese Problemlage vorher bewusst gewesen wäre?

Bedford-Strohm: Durch die nachträgliche symbolische Aufladung dieses Vorgangs in der medialen Debatte hier haben manche zu meinem großen Bedauern den Eindruck gewonnen, wir würden unseren Glauben im Gespräch mit anderen Religionen verstecken. Das wäre nun wirklich das letzte, was wir tun würden, und wir praktizieren ja jeden Tag das Gegenteil. Rückblickend wäre es besser gewesen, den Besuch an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form nicht zu machen. Wesentlich ist aber, dass wir mit dieser Reise ökumenisch einen großen Schritt vorangekommen sind. Eine gemeinsame Reise von EKD und Deutsche Bischofskonferenz ins Heilige Land gab es noch nie. Die Tage in Israel und Palästina waren eine tiefe ökumenische Erfahrung. Uns bringt nichts mehr auseinander. Mit dieser Gewissheit starten wir in das Reformationsjubiläum.

In vielen Kommentaren wird angesichts der Flüchtlingspolitik eine Spaltung der Gesellschaft beklagt. Nehmen die Eliten in Politik, Medien und Kirchen hinreichend die kritischen Vorbehalte in Teilen der Bevölkerung gegen den so genannten "Mainstream" wahr?

Bedford-Strohm: Wir dürfen nicht hinnehmen, dass sich bestimmte Gruppen in der Gesellschaft als "das Volk" bezeichnen und dann einen Gegensatz zwischen Eliten und dem Volk konstruieren. Im Volk gibt es eben sehr unterschiedliche Stimmen. Unsere Aufgabe als Kirchen ist es, die klaren Grundorientierungen, für die wir als Christen stehen, in die öffentlichen Debatten einzubringen. Die Demokratie lebt ja von solchen Debatten.

"Ausländerfeindlichkeit ist niemals mit dem christlichen Glauben vereinbar"

Wie erleben sie die öffentliche Auseinandersetzung darüber?

Bedford-Strohm: Wo Algorithmen im Internet dazu führen, dass jeweils nur die eigene Position verstärkt wird, da wird ein gesellschaftlicher Dialog massiv erschwert. Das behindert letztlich, was Demokratie ausmacht: den öffentlichen Diskurs zwischen unterschiedlichen Meinungen.

Ein großer Teil der Kommunikation läuft inzwischen in sozialen Netzwerken, aber sie sind auch Foren für Verschwörungstheorien und Hass. Ist da der Respekt abhandengekommen?

Bedford-Strohm: Echter Diskurs lebt davon, dass Menschen sich an Regeln des Anstandes halten. Gegenwärtig erleben wir ein aufgeheiztes Klima, in dem die Beleidigung zum Normalfall zu werden droht. Das dürfen wir nie und nimmer hinnehmen. Elektronische Kommunikation darf nicht dazu führen, den Anderen nur als Mülleimer für die eigene Wut zu missbrauchen.

In Deutschland hat sich mit der AfD eine rechtspopulistische Partei etabliert, die Stimmen vieler Protestwähler sammelt. Wie geht die Kirche mit der Partei um, wie mit ihren Wählern?

Bedford-Strohm: Es ist für mich nach wie vor keine klare Identität der AfD erkennbar. Die Motivationen, sich in der AfD zu engagieren oder sie zu wählen, sind heterogen. Es ist etwas anderes, ob jemand aus Frustration über bestimmte Entwicklungen diese Partei wählt, oder ob jemand die Partei als Verstärker für sein rechtsradikales Gedankengut nutzen will. Beides gibt es in der AfD, und wir konnten in den letzten Monaten miterleben, wie die Partei um genau solche Fragen streitet.

Wo verläuft für Sie als Bischof die rote Linie des Akzeptablen?

Bedford-Strohm: Die rote Linie ist für mich da überschritten, wo Menschengruppen herabgesetzt werden oder wo sogar  gegen sie gehetzt wird. Ausländerfeindlichkeit ist niemals mit dem christlichen Glauben vereinbar. Auch Nationalismus ist mit den christlichen Glauben aus meiner Sicht nicht vereinbar, weil beim Nationalismus anders als beim Patriotismus die Liebe zum eigenen Land sich in der Herabsetzung anderer Länder manifestiert. Natürlich spricht überhaupt nichts dagegen, dass man sein Land liebt – im Gegenteil. Aber man muss sich auch darüber freuen können, wenn andere ihr Land lieben.

Das nächste Jahr bringt neue politische Herausforderungen. In den USA tritt Donald Trump sein Amt an, in Frankreich hat die Rechtsextremistin Marine Le Pen Chancen darauf, die Stichwahl zur Präsidentschaft zu erreichen, auch in Deutschland wird gewählt. Wird sich die politische Kultur verändern?

Bedford-Strohm: Die politische Kultur wird nervöser, sie wird anfälliger und emotionaler. Das Wort vom "Postfaktischen" muss ein Anlass zur Sorge sein. Wenn Fakten durch Emotionen einfach weggefegt werden können, geht die Grundlage für den demokratischen Diskurs verloren. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir eine neue Balance zwischen Emotion und Wahrnehmung der Realität finden.

Wie wollen Sie das erreichen?

Bedford-Strohm: Nur auf der Basis von Fakten kann man echte Lösungen für die Probleme finden, die emotional als bedrohlich empfunden werden – nicht mit Scheinlösungen. Auch als Bürgerinnen und Bürger dürfen wir nicht nur anklagen und kritisieren, sondern müssen mit Problemen konstruktiv umgehen. Dabei müssen wir als Kirchen dafür Sorge tragen, dass die Grundorientierung der Humanität in diese Lösungen einfließt.

Ändert sich die Art und Weise, wie die Kirchen an der politischen Debatte teilhaben?

Bedford-Strohm: Die Kirchen haben sich in der Vergangenheit zu Recht dort eingebracht, wo es um Grundorientierungen geht. Das ist heute aktueller denn je. Es kann nicht um Einmischung in Parteipolitik gehen und nicht um tagespolitische Kommentare – das schadet dem Grundauftrag der Kirche. Aber da, wo das Doppelgebot der Liebe auf dem Spiel steht – also Gott und seinen Nächsten zu lieben – und wo es darum geht, die Not von anderen Menschen zu überwinden, da müssen sich die Kirchen einmischen.

Worüber werden Sie an Weihnachten predigen?

Bedford-Strohm: Ich werde in diesen Zeiten der Unsicherheit und Verzagtheit die Hoffnungsbotschaft ins Zentrum stellen: Dass Gott in einem verletzlichen kleinen Kind zur Welt kommt, zeigt ja, dass die Weihnachtsbotschaft mitten aus dem Leben kommt und mitten ins Leben hineinspricht. Es ist eine ungeheure Stärke der jüdisch-christlichen Tradition, dass sie gerade in den Unsicherheiten und Anfechtungen Kraft und Zuversicht ausstrahlt.