"Das Leid überwunden, um zu kämpfen" - Zwei Jesidinnen mit EU-Sacharow-Preis geehrt

"Das Leid überwunden, um zu kämpfen" - Zwei Jesidinnen mit EU-Sacharow-Preis geehrt
Sie berichteten von unfassbarem Leid und zeigten dabei beeindruckende Stärke. Die vom IS versklavten jungen Jesidinnen Nadia Murad und Lamia Adschi Baschar forderten bei der Sacharow-Preis-Verleihung die Hilfe Europas.

Entsetzen machte sich breit, als Nadia Murad und Lamia Adschi Baschar vor dem Europaparlament von ihrer Gefangenschaft bei der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) berichteten. Es herrschte tiefe Stille. In traditionelle Gewänder gekleidet sprachen sie von Folter, der Ermordung von Angehörigen und dem Leid, dem noch heute Tausende jesidische Frauen ausgeliefert seien. Für ihren Kampf gegen Menschenhandel und die Rechte ihrer Gemeinschaft wurden die beiden jungen Jesidinnen am Dienstag mit dem Sacharow-Preis des EU-Parlaments ausgezeichnet. Die Auszeichnung ist mit 50.000 Euro dotiert.

Die beiden Frauen aus dem Irak seien Heldinnen, die Europa an seine Pflicht erinnerten, sagte Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) in Straßburg. Beide hätten Furcht und Leid überwunden, um für die Zurückgebliebenen zu kämpfen. Europa habe nach dem Holocaust die Pflicht, Menschen vor Verfolgung zu schützen. Doch manchmal verweigere es sich dieser Pflicht: "Das ist beschämend und unerträglich."

Wie viele andere Frauen auch wurden Murad und Baschar 2014 vom IS als Sexsklavinnen verschleppt, nachdem die Terroristen ihren Heimatort überfallen und alle Männer getötet hatten. Der heute 23-jährigen Murad gelang Ende 2014 die Flucht. Mit einem Sonderprogramm für IS-Opfer kam sie nach Deutschland. Im September 2016 wurde sie zur UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden des Menschenhandels ernannt. Baschar, heute 18 Jahre alt, unternahm mehrere Fluchtversuche, bevor sie im April 2016 entkommen konnte. Als ihre beste Freundin in der Gefangenschaft auf eine Landmine trat, wurde sie schwer verletzt. Auch sie lebt heute in Deutschland.

Viermal sei sie vom IS verkauft worden, berichtete Baschar. Jedes Mal habe sie versucht zu fliehen, sei jedoch festgehalten, gefoltert und geschlagen worden. Sie habe die Todesschreie ihrer Freundin gehört, als diese auf die Mine trat. Doch sie habe überlebt, weil sie in Deutschland Hilfe erhalten habe. "Ich habe entschieden, die Stimme der Opfer zu werden", sagte sie mit fester Stimme. Mehr als 3.500 Frauen und Mädchen seien noch in Gefangenschaft des IS. Die Parlamentarier forderte sie auf, sich für die Jesiden und eine strafrechtliche Verfolgung der Terroristen einzusetzen. "Wir brauchen Europa, damit wir wieder in unser Land zurückkehren können und Frieden sehen."

Murad sagte: "Der IS hat mir meine Mutter genommen, die an die Menschlichkeit glaubte." Sie sei getötet worden, weil sie sich nicht für den Sexsklavinnen-Markt geeignet habe. Der Sacharow-Preis bedeute für sie, dass die Parlamentarier auf der Seite von Frauen in Kriegsgebieten stehe. Doch noch immer seien 500.000 Jesiden als letzte Überlebende der Gemeinschaft bedroht. Sie brauchten eine Schutzzone oder zumindest eine geordnete Auswanderung, forderte sie. "Wir können nicht länger Opfer von Völkermord, Ausrottung und Versklavung bleiben."

Der Sacharow-Preis für geistige Freiheit wird seit 1988 jährlich verliehen. Benannt ist er nach dem 1989 gestorbenen sowjetischen Physiker, Dissidenten und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Dieser hatte 1970 in der Sowjetunion ein Komitee zur Durchsetzung der Menschenrechte und Verteidigung politisch Verfolgter gegründet. Preisträger 2015 war der saudi-arabische Blogger Raif Badawi.