Suizidgefahr in Haft: "Man weiß nicht genau, was hilft"

Ein Mann mit Kapuze steht an einem hohen Gitterzaun.
Foto: Getty Images/zodebala
Suizidgefahr in Haft: "Man weiß nicht genau, was hilft"
In Gefängnissen gibt es mehr Suizide als draußen, insbesondere in den ersten Tagen der Haft. Der Terrorverdächtige Al-Bakr war also kein Einzelfall. Kann Seelsorge helfen? Nur bedingt. "Jemand, der sich tatsächlich suizidieren will, wird das tun, das können Sie nicht verhindern", sagt Tobias Müller-Monning, Vorsitzender der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Hessen.

Wie haben Sie die Nachricht vom Suizid des Syrers Al-Bakr aufgenommen?

Tobias Müller-Monning: Suizide in Haft passieren immer wieder. Die Gefahr, dass sich jemand in Haft suizidiert, ist zehn Mal so hoch wie in der Normalbevölkerung, insbesondere in den ersten 14 Tagen der Haft - statistisch passieren da 80 Prozent aller Suizide. Was man grundsätzlich sagen kann, ist, dass sich Suizide in Haft eigentlich nicht verhindern lassen. Es gehört mit zu der Situation, die die Haft erzeugt. Wir bräuchten generell ein anderes Umfeld, um mit Menschen, die aus dem Leben scheiden möchten, umzugehen. Die Haft ist einfach etwas, was die innere Verzweiflung unter Umständen fördern kann und dann auch den Schritt zum Suizid für die betreffende Person leider erleichtert.

Wie erkennt man, ob ein Gefangener suizidgefährdet ist?

Müller-Monning: Darauf kann ich wieder statistisch antworten. Es kommt darauf an, mit welcher Problematik er hineinkommt. Alarmzeichen könnten sein: eine Suchtmittelabhängigkeit, ein junger Mann oder Beziehungsprobleme – auch in Bezug auf die Tat. Wenn es ein Tötungsdelikt ist, muss man vorsichtig sein.

"Junger Mann", sagten Sie. Sind junge Männer generell mehr gefährdet?

Müller-Monning: Ja, statistisch ist das so.

Wenn solche Anzeichen vorliegen, ziehen die Bediensteten einer JVA dann automatisch einen Seelsorger, eine Seelsorgerin hinzu?

Müller-Monning: Erstmal wird im Zugangsgespräch - also wenn der Mensch kommt - eine Psychologin, ein Psychologe geholt. Wenn Anzeichen da sind, werden besondere Sicherungsmaßnahmen ausgesprochen, das heißt: Die gefangene Person kommt entweder in eine kameraüberwachte Zelle, was im Fall von Sachsen nicht möglich ist, weil das sächsische Strafvollzugsgesetz das nicht vorsieht. Da sind Sitzwachen vorgesehen, was eigentlich eine gute Sache ist. Oder aber es werden andere Mitarbeiter darauf aufmerksam gemacht, dass eine besondere Zuwendung nötig ist. In diesem Augenblick wird auch der Gefängnisseelsorger, die Gefängnisseelsorgerin mit hinzugezogen.

"Seelsorge im Gefängnis ist eine stark verrechtlichte Form der Arbeit und es sind weitgehende Rechte"

Kann Seelsorge in so einer akuten Situation überhaupt helfen?

Müller-Monning: Das ist schwer zu beantworten, weil man nicht genau weiß, was in der akuten Krisensituation tatsächlich hilft. Ein Seelsorge-Gespräch kann dazu führen, dass die Hintergründe, die einen Suizid wahrscheinlich machen würden, benannt werden, aber auch das ist nicht ganz sicher. Jemand, der sich tatsächlich suizidieren will, wird das tun, das können Sie nicht verhindern.

Haben auch U-Häftlinge generell Zugang zu Seelsorge?

Müller-Monning: Ja, dieses Recht ist im Strafvollzugsgesetz und auch im Untersuchungshaftgesetz so vorgesehen. Es ist einfach Teil der freien Religionsausübung. Wenn das jemand möchte, dann darf und kann er einen Seelsorger sprechen.

Auch sofort?

Müller-Monning: Wenn uns signalisiert wird, dass jemand in einem schwierigen Zustand sein könnte, dann sind wir in der Regel relativ schnell.

Ich könnte mir vorstellen, dass ein Gefangener nicht unbedingt fragt: "Kann bitte mal der Pfarrer oder Imam kommen?"

Müller-Monning: Ja, aber die Bediensteten machen uns darauf aufmerksam, dass hier jemand ist, dem es nicht gut geht.

Und dann kommen Sie einfach?

Müller-Monning: Ich sage dann ganz offen: "Herr Sowieso hat gemerkt, dass es Ihnen nicht gut geht, wollen Sie mit mir reden?" So wird die Einwilligung eingeholt, und in der Regel kommt es dann auch zu einem Gespräch.

Was tun Seelsorger, wenn ein Gefangener kein Deutsch, Englisch oder Französisch spricht?

Müller-Monning: Grundsätzlich ist es notwendig, einen Übersetzer hinzuzuziehen, wenn eine krisenhafte Situation vorliegt. Das geschieht nicht immer, ist aber Standard und wird auch gefordert. Allerdings ist es dann keine Seelsorgesituation mehr, weil Seelsorge das Vier-Augen-Gespräch voraussetzt.

Gibt es genügend muslimische Seelsorger? Haben Sie zum Beispiel einen Kollegen?

Müller-Monning: Das ist rechtlich nicht ganz geklärt. Ich habe in Butzbach einen Kollegen, ja. Allerdings wird dessen Arbeit vom hessischen Ministerium der Justiz als "religiöse Betreuung von Muslimen" gekennzeichnet, weil die Rechtsgrundlage nicht klar ist. Normalerweise bräuchten wir eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft öffentlichen Rechts ist, um das als Seelsorge zu bezeichnen, und das ist im Augenblick nicht gewährleistet. Es gibt nur zwei Verbände, denen das zusteht, nämlich der Ditib und der Ahmadiyya-Gemeinde in Frankfurt. Es wäre wünschenswert, dass alle muslimischen Verbände als Religionsgemeinschaften den Körperschaftsstatus erhielten.

Das heißt, solange das nicht geklärt ist, kann zwar ein Imam in der JVA sein, der darf nur nicht Seelsorger heißen?

Müller-Monning: Doch, man kann den auch als Seelsorger bezeichnen, das ist nicht das Grundproblem. Sondern das Problem ist der Zugang zu den entsprechenden Rechten aus der Strafprozessordnung: des Zeugnisverweigerungsrechtes, das Beschlagnahmeverbot für Schriftstücke und auch der Schutz vor staatsanwaltlicher Ermittlung, also eine Art Abhörverbot für Gespräche zwischen einem Geistlichen und einem Beschuldigten. Dann gibt es noch weitergehende Rechte aus dem Strafgesetzbuch: zum Beispiel die Nichtanzeigepflicht einer Straftat für etwas, das einem Seelsorger in seiner Funktion als Seelsorger mitgeteilt wird. Seelsorge im Gefängnis ist eine stark verrechtlichte Form der Arbeit und es sind weitgehende Rechte. Solange das nicht für die Imame geklärt ist, ist die Definition von Seelsorge unklar.

"Sie stehen in diesem Fall vor einem ethischen Problem, das zu beantworten sehr schwierig ist"

Sprechen Muslime zur Not auch mit einem christlichen Pfarrer?

Müller-Monning: Wir machen in der Regel eine interreligiöse und multikulturelle Form der Seelsorge. Es kommt nicht auf die Konfession an.

Und die muslimischen Gefangenen nehmen das auch an?

Müller-Monning: Natürlich, ja. Es ist trotzdem gut, wenn es einen Imam gibt, weil der noch anders und gezielter auf bestimmte Fragen eingehen kann. Es ist auch gut, dass mein Kollege hier ist.

Haben Sie schon einmal als Seelsorger jemanden von seiner Suizidabsicht abgebracht?

Müller-Monning: Darauf möchte ich nicht antworten, denn das unterliegt dem Seelsorgegeheimnis. Das ist eine der schwierigsten Arbeitssituationen überhaupt, wenn Ihnen ein Gefangener mitteilt, dass er sich suizidieren möchte, weil ich das eigentlich nicht weitersagen darf. Sie stehen in diesem Fall vor einem ethischen Problem, das zu beantworten sehr schwierig ist.