ESC 2016: Folgenloser Skandal mit Wikipedia-Seite

Iveta Mukuchyan und ihre Delegation schwenken Fahnen von Bergkarabach.
Foto: dpa/Britta Pedersen
Regelbruch? Iveta Mukuchyan und ihre Delegation schwenken Fahnen von Bergkarabach.
ESC 2016: Folgenloser Skandal mit Wikipedia-Seite
Eine falsche Flagge sorgt für Skandal. Kritische Fragen gibt es auch beim ESC in Stockholm nach dem zweiten Halbfinale. Und im Finale startet ganz viel Schweden, wenn auch nur indirekt.

Wer am Dienstagabend das erste Semifinale des Eurovision Song Contest (ESC) geschaut hat, dem wurde aus Stockholm eine runde Show mit 18 Liedern geboten. Die deckten eine große Bandbreite ab, aber waren letztendlich austauschbar und strahlten wenig von ihrem Land aus. Sieht man mal von Bosnien-Herzegowina und Griechenland ab, die beide aussortiert wurden. Auch das armenische Lied "LoveWave" vermittelte durch Arrangement und Instrumentierung etwas von seinem Mutterland - aber Sängerin Iveta Mukutschjan kam durch. Armenien gehörte am Ende zu den zehn Glücklichen und musste sich deshalb bei der Pressekonferenz der Qualifikanten auch einer kritischen Frage stellen.

Insgesamt werden zwei Fragen von der Presse gestellt, die erste aus dem qualifizierten Teilnehmerland, die zweite von der internationalen Presse. Und es fing alles so schön an. Eine armenische Journalistin gratulierte vor ihrer Frage ausdrücklich allen Ländern, die sich qualifiziert hatten. Das schloss das armenische Nachbarland Aserbaidschan ein - und ist bemerkenswert, weil hier vor gut vier Wochen noch im wörtlichen Sinne aufeinander geschossen wurde. Doch dann kam die Frage der internationalen Presse. Ein hellwacher schwedischer Journalist wollte wissen, weshalb Iveta im Green Room die Fahne von Bergkarabach geschwenkt habe.

Zur Erklärung: Green Room ist da, wo die einzelnen Delegationen vor den Augen der Öffentlichkeit nach ihrem Auftritt bis zur letztendlichen Qualifizierung aufbewahrt werden, Bergkarabach ist das, weshalb Armenien und Aserbaidschan immer mal wieder aufeinander schießen. Der alte Konflikt begann in Sowjetzeiten neu, beim Auseinanderbrechen der UdSSR entstanden 1991 die unabhängigen Republiken Armenien und Aserbaidschan, wobei Bergkarabach zu Aserbaidschan gehörte, obwohl die Armenier hier die Mehrheit stellen. Von 1992 bis 1994 gab es Krieg, am Ende war eine eigene Regierung aus der Volksgruppe der Armenier in Bergkarabach, außerdem wurden weitere Teile Aserbaidschans annektiert. Seit 1994 besteht ein Waffenstillstand, aber für Vereinte Nationen (UN) und Europarat ist Bergkarabach weiter Teil Aserbaidschans. Anerkannt wurde die Republik Bergkarabach bis heute von keinem anderen Staat, außer von Abchasien, Süd-Ossetien und Transnistrien, die auch keine UN-anerkannten Staaten sind. Als wäre es nicht kompliziert genug, kommt auch noch die Religion ins Spiel: Armenier sind Christen, Aseri eher Muslime.

Und Iveta schwenkte die Fahne von Bergkarabach, obwohl es inzwischen die klare Regel gibt, dass nur Fahnen von UN-Mitgliedsländern und von der EU sowie die Regenbogen-Flagge als Zeichen von Toleranz und Vielfalt erlaubt sind. Iveta erklärte, ihr gehe es doch nur darum, dass dort Frieden herrschen solle, außerdem lebe sie in Deutschland. Jeder muss für sich entscheiden, was hier zum Tragen kommt: grenzenlose Naivität oder bodenlose Frechheit? Obwohl die Eurovisions-Scharmützel der Länder eine eigene Wikipedia-Seite haben, hat sich die European Broadcasting Union (EBU) erneut eher für Naivität entschieden. Es gibt keine Disqualifikation des Liedes, auch wenn die EBU eine gravierenden Regelbruch konstatiert und eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Armenien bei weiteren Verstößen dieser Art in Aussicht stellt, mit Konsequenzen für die laufende und zukünftige ESC-Veranstaltungen.

Der Russe Sergej Lasarew bekam ebenfalls eine kritische Frage ab. Aber zunächst die nette von der Heimatfront: Eine russische Journalistin ermunterte den Sänger, doch mal zu erzählen, dass Russland gar nicht so ein kaltes Land sei. Während sich Sergej Lasarew ein bisschen zierte, machte der schwedische Pressekonferenz-Moderator Jovan Radomir sofort Schluss bei diesem Ringelpiez mit Anfassen, indem er sagte: Sotschi ist nicht so kalt. Denn überall wird hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass die nächste Eurovision bei einem russischen Sieg in der Olympia-Stadt am Schwarzen Meer stattfindet. Mit seinem extrem eingängigen und bombastisch inszenierten "You Are the Only One" ist der Russe ein heißer Favorit.

Und so fragte dann ein Journalist aus der Ukraine, ob die überproportional schwulen Fans eigentlich Angst haben müssten, wenn sie im kommendes Jahr zur Eurovision nach Russland reisen müssten. Sergej Lasarew, der sehr sympathisch und professionell wirkt, zeichnete in seiner Antwort das Bild von einem homosexuellen-neutralen Russland. Hier kommt man weder mit den Worten "Naivität" noch "Frechheit" weiter, es sind wohl einfach zwei gänzlich unterschiedliche Wahrnehmungen der Welt.

Beim zweiten Halbfinale am Donnerstagabend ging es also scheinbar nur noch darum, Sparrings-Partner für Russland am Samstag zu suchen. Doch gefunden wurde sehr viel mehr: Der Israeli Hovi Star, der wie Abraham unterm Sternzelt steht und nach Auskunft in seiner Pressekonferenz alle ermutigt, die zu leise, zu dick, zu schüchtern, zu anders sind: "We Are All Made of Stars", wir sind alle aus Sternen gemacht. Seine gute Freundin, die Serbin Sanja Vučić, bringt als ZAA mit "Goodbye" ein Lied gegen Gewalt gegen Frauen auf die Bühne. Dami Im, die Australierin mit koreanischen Wurzeln, singt schwer beeindruckend in ihrer Eurovisions-Liebes-Ballade "Sound of Silence" über den Klang der Stille. Die Ukrainierin Jamala erinnert in ihrem Lied "1944" großartig inszeniert auf Englisch und Krimtartarisch an die sowjetische Vertreibung der Krimtataren in eben jenem Jahr, was Teil ihrer Familienhistorie ist. Damit sorgt sie für Verärgerung in Russland und für Gänsehaut bei großen Teilen vom Rest der Welt.

Die Startreihenfolge für das Finale

Ach, ja, wenn man unbedingt eine Eurovision am Schwarzen Meer haben will, kann man auch für die Bulgarin Poli Genova stimmen, sie könnte mit ihrem "If Love Was a Crime" ebenfalls einen Weg dahin bahnen. Außerdem gehörte der französisch-israelische Sänger Amir Haddad mit seinem "J'ai cherché" von Anfang an zum Favoritenkreis, als Teilnehmer für Frankreich war er direkt fürs Finale qualifiziert.

Egal, wie die klimatischen Verhältnissen in Russland sind, Sergej Lasarew wird sich am Samstagabend warm anziehen müssen, obwohl die Eurovisions-Entourage seit dem Probenbeginn vor 14 Tagen blendendes Wetter in Stockholm erlebt und die Sonne immer noch über alle Berge scheint. Die selbsterklärte Hauptstadt Skandinaviens zeigt sich von ihrer besten Seite, übrigens mit Schweden als einzigem Final-Teilnehmer mit einem skandinavischen Kreuz in der Fahne: Dänen, Finnen, Isländer und Norweger dürfen diesmal am letzten Abend nicht singen, sondern nur telefonieren. Aber dafür sind ja acht der 26 Final-Lieder von Schweden mitgeschrieben oder produziert worden.

Das hier ist übrigens die frisch ausgetüftelte Startreihenfolge der einzelnen Länder beim Finale des Eurovision Song Contest am Samstagabend, im Fernsehen ab 21 Uhr in der ARD:

1. Belgien: Laura Tesoro, "What's the Pressure"
2. Tschechien: Gabriela Gunčíková, "I Stand"
3. Niederlande: Douwe Bob, "Slow Down"
4. Aserbaidschan: Samra Rahimli, "Miracle"
5. Ungarn: Freddie, "Pioneer"
6. Italien: Francesca Michielin, "No Degree Of Separation"
7. Israel: Hovi Star, "Made Of Stars"
8. Bulgarien: Poli Genova, "If Love Was A Crime"
9. Schweden: Frans, "If I Were Sorry"
10. Deutschland: Jamie-Lee, "Ghost"
11. Frankreich: Amir, "J'ai cherché"
12. Polen: Michał Szpak, "Colour Of Your Life"
13. Australien: Dami Im, "Sound Of Silence"
14. Zypern: Minus One, "Alter Ego"
15. Serbien: Sanja Vučič, "Goodbye (Shelter)"
16. Litauen: Donny Montell, "I've Been Waiting For This Night"
17. Kroatien: Nina Kraljić, "Lighthouse"
18. Russland: Sergey Lazarev, "You Are The Only One"
19. Spanien: Barei, "Say Yay!"
20. Lettland: Justs, "Heartbeat"
21. Ukraine: Jamala, "1944"
22. Malta: Ira Losco, "Walk On Water"
23. Georgien: Young Georgian Lolitaz, "Midnight Gold"
24. Österreich: Zoë, "Loin d'ici"
25. Großbritannien: Joe and Jake, "You're Not Alone"
26. Armenien: Iveta Mukuchyan, "Love Wave"

Und übrigens: Auch in diesem Jahr gibt es wieder ein Wort zum Sonntag zum ESC, diesmal von Annette Behnken.