Merkels "Wir" und Deutschlands Muslime

Muslimische Flüchtlinge
Foto: Henning Bode/laif
Muslimische Flüchtlinge übernachten im Gebetsraum der Al-Nour-Moschee in einer ehemaligen Tiefgarage im Hamburger Bahnhofsviertel.
Merkels "Wir" und Deutschlands Muslime
Die meisten Flüchtlinge, die zurzeit nach Deutschland kommen, sind Muslime. Was bedeutet das für muslimische Zuwanderer, die schon länger in Deutschland leben? Canan Topçu hat sich umgehört: Manche haben Sorgen, andere wollen gern helfen.

Wenn Fatah Qayumie über die neuen Flüchtlinge spricht, dann greift er auf eigene Erfahrungen zurück: Zu seiner Integration habe beigetragen, dass das Asylverfahren "schnell durch" war, dass er bald darauf habe Deutschkurse besuchen und arbeiten können. "Arbeit ist ganz, ganz wichtig", sagt Qayumie. Er hält nichts davon, dass der Staat, wie er meint, "die Leute aushält", das mache sie bequem.

Knapp drei Jahrzehnte ist es her, dass Qayumie aus Afghanistan flüchtete. Auf den Weg machte er sich mit Frau und Kind, einem sechs Monate alten Mädchen. In Deutschland bekam die Familie bereits nach einem halben Jahr Asyl und Qayumie begann zu arbeiten – anfangs als Reinigungskraft, dann als Taxifahrer und später als Briefsortierer bei der Post, bis er sich schließlich selbständig machte. Inzwischen ist Qayumie 51 Jahre alt, hat fünf Kinder und ein Eigenheim in einem Neubaugebiet bei Gießen. Er ist in der Facilitymanagement-Branche tätig und beschäftigt in seiner Firma 70 Personen, hat also weit mehr erreicht, als Politiker und Arbeitsmarktforscher sich von Zuwanderung erhoffen. Warum sollten die Neuankömmlinge das nicht auch schaffen?

Ein Problem sieht Qayumie darin, "dass zu viele auf einmal gekommen sind". Dafür sei auch die Bundeskanzlerin verantwortlich. Das Ergebnis von Angela Merkels Aussage "Wir schaffen das!" sei, dass nun auch all die kommen, "die ihr Land nicht wirklich wegen Krieg verlassen", zu ihnen zählt er "Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Balkan" und auch "Leute aus Pakistan und Afghanistan". Während Politiker darüber debattieren, ob Afghanistan als sicheres Herkunftsland einzustufen ist, hat Qayumie eine klare Meinung in dieser Frage. "Es gibt keine Gründe außer wirtschaftliche, um Afghanistan zu verlassen", sagt er in einem Gespräch nach dem Freitagsgebet.

Muslimische Gemeinden helfen Flüchtlingen

Qayumie ist einer der wenigen Muslime, die Merkel wegen ihrer Haltung in der Flüchtlingsfrage kritisieren. Die meisten lassen nichts auf "unsere Kanzlerin" kommen und loben sie. Vom "Wir" ihres Ausspruchs fühlen sich etliche Muslime angesprochen. Auf den Punkt bringt es eine junge Frau, Tochter türkischer Arbeitsmigranten: "Ich denke, dass ich meinen eigenen Beitrag in meinem 'Mikrokosmos' leisten kann und muss, um irgendwann in vielen Jahren sagen zu können, ich war Teil dieser gesellschaftlichen Herausforderung und habe mitgewirkt, habe auch etwas getan."

Dieses "Wir" der Kanzlerin scheint also zum Helfen zu motivieren. Land auf, Land ab sind viele muslimische Gemeinden in der Flüchtlingshilfe aktiv. Es wird Bekleidung gesammelt und Geld gespendet, Gemeindemitglieder sind als Übersetzer oder in der Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen aktiv.

Das Engagement der Moscheegemeinden ist ganz auf Ehrenamt aufgebaut und erfolgt ohne institutionelle Förderung. Darauf haben Islamverbände in den vergangenen Monaten immer wieder hingewiesen und damit auch auf die Kritik reagiert, sie seien zu wenig in der Flüchtlingshilfe aktiv. Den Moscheegemeinden - seien sie einem Verband angeschlossen oder auch nicht - fehlt es in der Tat an professionellem Personal und finanziellen Ressourcen. Denn anders als christliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände erhalten sie keine staatlichen Zuschüsse.

Imageverlust durch die "Neuen"?

Der Industriemeister Ahmed Araychi ist Vorstandsmitglied eines Moscheevereins, der sich vor allem aus Muslimen marokkanischer Herkunft zusammensetzt. Ihm ist es wichtig, auf das Engagement seiner Gemeinde in der Flüchtlingshilfe hinzuweisen: "Wenn es Deutschland schlecht geht, dann sind wir Muslime auch davon betroffen, also haben wir die Pflicht, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass unser Land die Probleme meistert", sagt der Mittvierziger mit überzeugendem Ton in der Stimme. Araychi ist aber auch der Ansicht, dass in Deutschland auf hohem Niveau gejammert werde. "Wir alle müssen bereit sein, ein bisschen zu verzichten, um Menschen in Not zu helfen." Das Land sei wirtschaftlich stark, es gebe hier genug Arbeit und Wohlstand.

Seien es Männer oder Frauen, jüngere oder ältere, Studierende oder Berufstätige, mit oder ohne akademischem Beruf: Angst vor wirtschaftlichen Problemen und einer unsicheren ökonomischen Zukunft äußern nur wenige Muslime. Allerdings gibt es bei einem Teil Angst vor noch größerer Islamfeindlichkeit. Manche Kopftuch tragende Muslima hat den Eindruck, dass das Umfeld in den vergangenen Monaten skeptischer und feindlicher geworden ist. Sorgen haben etliche vor einem Imageverlust durch die Neuankömmlinge, von denen Schätzungen zu Folge etwa 80 Prozent Muslime sind. Es gibt allerdings keine validen Erkenntnisse darüber, wie religiös diese Menschen sind. Experten mutmaßen, dass ein Teil derer, die aufgrund des islamistischen Terrors aus ihrer Heimat geflohen sind, ein eher gespaltenes Verhältnis zum Islam haben und nicht ausgeprägt religiös sind.

"Wir haben uns in all den Jahren so sehr um Anerkennung bemüht", erklärt Ayşe Eroğul. Jetzt befürchtet die 28-jährige Studentin "einen Rückfall in der gesellschaftlichen und politischen Integration von Muslimen, weil sich die neuen mit den Gepflogenheiten in diesem Land nicht auskennen und sich schlecht benehmen". Solche Überlegungen sind wiederum Selma Öztürk-Pınar fern. Sie wurde als Tochter von türkischen Gastarbeitern in Hannover geboren und ist 37 Jahre alt. "Probleme um Anerkennung hatten wir auch schon vorher", sagt Öztürk-Pınar. Es sei absurd, wenn sich wegen der neuen unter den "alteingesessenen" Migranten und Muslimen die Angst um wachsende Ausgrenzungen breit mache, sagt die Juristin, die sich mit ihrem Kopftuch als Muslima zu erkennen gibt.

"Lieber Gott, hilf den Menschen, zu Verstand zu kommen"

Öztürk-Pınar plädiert für Empathie gegenüber den Geflüchteten. Das seien traumatisierte Menschen, die sprachlos in einem völlig fremden Ort ankämen, am Verlust der Heimat und des Vertrauten litten und Unterstützung beim Ankommen in diesem Land brauchten. Anders als die Generation ihrer Eltern seien die Neuankömmlinge aber durchaus im Vorteil. Ihre Integration in die Gesellschaft könne schneller und besser gelingen, denn "es gibt hier schon eine Infrastruktur". Dazu gehörten auch die Moscheegemeinden und die vielen Selbsthilfeorganisationen von Migranten, die sich um die Belange von Muslimen kümmerten.

Andere wiederum vertrauen auf die deutsche Politik und die institutionellen Hilfsstrukturen. Dass Flüchtlinge "hier gut versorgt und gut aufgehoben" sind, meint Mersudin Cehadarevic. Der 42-Jährige kam 1989 im Zuge einer Familienzusammenführung aus Bosnien nach Deutschland. Inzwischen hat er selbst eine Familie, ist Autohändler und engagiert sich ehrenamtlich als Vorsitzender eines Moscheevereins in Frankfurt. Anfangs sei auch in seiner Gemeinde viel über die Flüchtlinge gesprochen worden, berichtet Cehadarevic. "Wir haben sogar Geld gespendet." Inzwischen seien Flüchtlinge nicht mehr "das" Thema in der Moschee.

Auch wenn er sich nicht aktiv an der Flüchtlingshilfe beteiligt, beschäftigt Cehadarevic das Thema sehr. Kummer bereiten ihm vor allem all die, die in den Kriegsgebieten den Bombardements ausgesetzt sind und um ihr Leben bangen müssen. Er sei zwar Moslem, überblicke aber trotzdem nicht die Kriege in den Gebieten und Ländern, in denen Muslime lebten, sagt Cehadarevic. Warum sich "Sunniten und Schiiten, Türken und Kurden die Köpfe einhauen", warum "Idioten mit ausgetrocknetem Gehirn" von sich behaupteten, Muslime zu sein und Menschen ermorden, bleibt ihm ein Rätsel. Der vierfache Vater fühlt sich überfordert von den Geschehnissen auf der Welt und beruhigt sich mit Gebeten. Eins davon lautet so: "Lieber Gott, hilf den Menschen, zu Verstand zu kommen und im Frieden miteinander zu leben."