Geschäft statt Fußball - Brasilien 100 Tage nach der WM

Graffiti zur Fußball-WM in Sao Paulo
Foto: Getty Images/Miguel Tovar
Graffiti zur Fußball-WM in Sao Paulo
Geschäft statt Fußball - Brasilien 100 Tage nach der WM
Der Sommer stand über viele Wochen ganz im Zeichen des runden Leders: Die FIFA-WM 2014 in Brasilien errregte die Gemüter - und das nicht nur auf dem Rasen. Es gab viel Kritik, Proteste und große Hoffnungen. Auch hier bei evangelisch.de haben wir dieses Großereignis begleitet, unter anderem mit unserer Artikelserie "Foul am Zuckerhut", in der Menschen vor Ort zu Wort kamen. Jetzt - 100 Tage nach dem Ende der WM - schauen wir erneut hin. Was ist seitdem passiert, was ist geblieben, was hat sich verändert?

Jubel in Deutschland, Katerstimmung in Brasilien. Vor genau 100 Tagen gewann die Löw-Elf das WM-Finale in Rio de Janeiro gegen Argentinien, es war der erste Weltmeistertitel einer europäischen Mannschaft auf südamerikanischem Boden. Gastgeber Brasilien lag damals in einer Schockstarre: Ein blamables 1:7 gegen Deutschland hatte wenige Tage zuvor den Titelträumen der Seleção ein geradezu dramatisches Ende beschert.

Ein Trauma wie 1950 hinterließ die WM 2014 jedoch nicht. Vor 64 Jahren verlor Brasilien im Finale gegen den Nachbarn Uruguay mit 2:1, was damals einen Minderwertigkeitskomplex auslöste, der bis heute in der brasilianischen Gesellschaft zu spüren ist. "Nein, die verpatzte WM dieses Jahres ist mit damals nicht zu vergleichen", betont Mário Salcedo. "Natürlich wollten wir gewinnen. Doch die Niederlage hat bei mir und meinen Freunden alles andere als ein Trauma ausgelöst: Wir waren nicht besonders traurig, es war uns eher peinlich und hat richtigen Ärger ausgelöst."

Die Studienkollegen stimmen Mário zu. Gemeinsam haben sie in Rio de Janeiro viele der Fußballspiele geguckt. Ein Jahr vorher sind die meisten von ihnen auf die Straße gegangen, bei den großen Demonstrationen für besseren öffentlichen Nahverkehr, für mehr Bildung und ein besseres Gesundheitssystem. "Von Anfang an ist diese WM hinterfragt worden. Viele glaubten die schönen Versprechen der Regierung nicht, protestierten gegen die Räumungen Tausender Menschen aus ihren Häusern und verstanden nicht, warum die Polizei auf friedliche Demonstranten einprügelte."

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Jetzt, drei Monate nach dem Endspiel, sei es viel einfacher zu verstehen, was damals in Brasilien los war, sinniert Vanessa Cruz. "Wir haben mitgefeiert, weil es schöne, spannende Spiele waren und weil die Gäste aus aller Welt so enthusiastisch waren." Aber es sei nicht "ihre" WM gewesen, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin: "Wir haben uns weder mit der Mannschaft noch mit der offiziell verordneten Feststimmung identifiziert."

Der Ärger, von dem Mário spricht, ist bis heute nicht verflogen. Viele der Befürchtungen, die die WM-Kritiker im Vorfeld formuliert hatten, scheinen sich zu bestätigen. Mehrere der schicken, neugebauten Stadien werden kaum genutzt. Insbesondere in den Städten, in denen keine Erstliga-Mannschaften spielen, mangelt es an Nutzungskonzepten. Damit die Prachtarenen in der Hauptstadt Brasilia oder in der Amazonasstadt Manaus nicht ganz leer stehen, werden manchmal Spitzenspiele der Liga dorthin verlegt.

"Es geht nur noch um das Geschäft"

Auch der Wachstumsimpuls, den die Weltmeisterschaft auslösen sollte, blieb aus. Zwar kamen wie erwartet Hunderttausende Besucher ins Land und kurbelten kurzfristig den Konsum an. Doch um einen reibungslosen Ablauf der Spiele zu gewährleisten, verordneten die Behörden zahlreiche Feiertage, was zu Einbußen bei der Produktion führte. Die Wirtschaft schwächelt, heute noch mehr als vor der WM. Sicher ist: Die Milliarden, die der Staat in Infrastruktur, Sicherheit und Sportstätten investierte, haben ein großes Loch in die öffentlichen Kassen gerissen, das erst wieder mit Steuergeldern gefüllt werden muss.

Graffiti zur Fußball-WM in Rio de Janeiro

Auch das Problem der hohen Lebenshaltungskosten ist noch akut. Insbesondere in Metropolen wie Rio de Janeiro und São Paulo klagen die Menschen über hohe Preise und sehr teure Mieten. "Das liegt auch daran, dass in zwei Jahren schon das nächste Sportevent ansteht, die Olympischen Spiele in Rio", erinnert Vanessa. Bis dahin erwarte niemand, dass sich etwas an den hohen Preisen ändere.

Zum Ärger über die ökonomischen Probleme gesellt sich der Unmut über den Fußball. Die Ermittlungen gegen die verhassten FIFA-Funktionäre wegen Korruption und illegalem Ticketverkauf sind nach der WM im Sande verlaufen. Auch die Funktionäre des lokalen Fußballverbands CBF, denen niemand in Brasilien über den Weg traut, sind unbehelligt davon gekommen. Sie entließen den glücklosen Trainer Felipão und ersetzten ihn durch Dunga, der im Ruf steht, mangels Durchsetzungskraft den Vorgaben des CBF zu entsprechen. Zwar gewann Brasilien seine vier Testspiele seit der WM, unter anderem gegen Argentinien und Kolumbien, doch ohne große Anteilnahme der Fans: Die Spiele fanden in den USA, in China und Singapur statt. "Es wird immer deutlicher, dass es nicht mehr um den Sport, sondern nur noch um das Geschäft geht. Ich hätte Neymars Tore gerne gesehen, aber um sieben Uhr Morgens?",  fragt Mário, ohne seinen Missmut zu verbergen.

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Dass der Ärger nicht in stärkeren Protesten mündete, hat vor allem mit der politischen Konjunktur im größten Land Lateinamerikas zu tun. Es stehen Präsidentschaftswahlen an. In der Stichwahl am 26. Oktober liefern sich die gemäßigt linke Amtsinhaberin Dilma Rousseff und der rechtsliberale Herausforderer Aécio Neves ein Kopf an Kopf-Rennen. Schon während der WM warnten zahlreiche soziale Bewegungen davor, dass Kritik zwar richtig sei, aber Demonstrationen schnell als Kampagne gegen die regierende Arbeiterpartei PT interpretiert werden könnten.

"Obwohl sich die Demonstrationen im Juni 2013 eindeutig gegen lokale Missstände und regionale Regierungen richteten, machten die privaten Massenmedien daraus einen angeblichen Aufstand gegen Rousseff", analysiert Orlando Junior vom WM-kritischen Komitee in Rio de Janeiro. Dadurch sei die Bewegung geschwächt, ja fast gespalten worden: "Einige beharrten darauf, dass Demonstrationen und öffentlicher Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen durch die WM-Organisation notwendig seien. Andere wollten die Proteste aussetzen, um den Rechten bei der Wahl nicht in die Hände zu spielen", resümiert der Aktivist vom "Comitê da Copa".

"Wir waren gute Gastgeber"

Die Protestwelle, mit der viele die Hoffnung auf weitere Veränderungen und mehr soziale Gerechtigkeit verbanden, ist abgeflaut. Bei den Kongresswahlen Anfang Oktober haben sich die einstigen Forderungen der Straße nicht in neue Mehrheiten verwandelt, im Gegenteil. Es gab einen Rechtsruck im Parlament: Evangelikale Parteien konnten ebenso zulegen wie die Agrarfraktion und die Verfechter einer Null-Toleranz-Sicherheitspolitik. Anliegen wie gleichgeschlechtliche Ehen, Menschenrechte oder Umweltschutz haben an Fürsprechern verloren.

Mit der WM werden aber nicht nur Streit und Probleme verbunden. Viele sind stolz darauf, dass Brasilien ein schönes Fest organisierte und dass doch alles gut geklappt hat, obwohl im In- und Ausland zuvor ein heilloses Chaos herbeigeschrieben wurde. "Wir waren gute Gastgeber", sagt Mário, und es freue ihn, dass die ganze Welt dies live im Fernsehen miterlebt habe.

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Diesmal ist Vanessa nicht einverstanden. Ihr ist die Politisierung und die neue Streitkultur im Zuge der WM offenbar wichtiger. Mit fester Stimme provoziert sie: "Ich glaube, uns allen würde es heute besser gehen, wenn wir die WM nicht veranstaltet hätten. Mit Ausnahme der großen Bauunternehmer und vielleicht einiger Fußballfunktionäre, die von dem Ganzen am meisten profitiert haben."