Die Tafeln stellen sich auf "Millionen" Senioren ein

Die Tafeln stellen sich auf "Millionen" Senioren ein
Immer mehr Menschen sind im Alter auf finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen. Die wachsende Armut unter Senioren bekommen die Tafeln schon heute zu spüren - und richten Rollatorenparkplätze ein.
21.10.2011
Von Sebastian Stoll

Kaum drei oder vier Jahre ist es her, dass nur ein einziger Gast mit einem Laufwagen zum Essen kam. "Der hatte Multiple Sklerose. Wir haben ihm dann immer gesagt: 'Peter, stell den Rollator in irgendeine Ecke' - und das Problem war gelöst", sagt Udo Engelhardt. Wenn es heute in der Tafel im südbadischen Singen Mittagessen gibt, bietet sich ein anderes Bild: Oft sind es zehn oder mehr Rollatoren, die den Raum zu versperren drohen. Inzwischen wurde Platz geschaffen. An der Wand hängt ein Zettel mit der Aufschrift "Rollatorenparkplatz".

"Über ein Drittel der Leute, die zu uns kommen, sind nicht mehr im erwerbsfähigen Alter", sagt Engelhardt, der die Einrichtung leitet. Die Tafel-Helfer erleben das, wovor viele Experten seit Jahren warnen: Die Altersarmut wächst, und sie wird weiter steigen, wenn die Politik nicht gegensteuert. "Regierungsdialog Rente" nennt sich ein Expertengremium, das Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) einberufen hat. Noch in diesem Jahr sollen unter anderem Vertreter aus Wirtschaft, Sozialverbänden und Gewerkschaften Schritte erarbeiten, mit denen sich ein Abgleiten von immer mehr Senioren in die Armut verhindern lässt.

Die Bedürftigen sind nicht mehr mobil

Im Jahr 2010 waren von jeweils 1.000 Einwohnern ab 65 Jahren 28 Frauen und 20 Männer auf die Grundsicherung im Alter angewiesen, erklärte das Statistische Bundesamt am Freitag. In den vergangenen fünf Jahren ist der Durchschnitt damit von 21,6 auf 24,6 Menschen pro 1.000 Einwohner gestiegen. Experten sagen für die Zukunft eine steigende Quote voraus.

Singen ist eine Art Brennglas der künftigen Entwicklung. Anders als bei vielen anderen Orten in der reichen Bodensee-Region handelt es sich bei der 45.000-Einwohner-Stadt um einen traditionellen Industriestandort. Zwar sind die Arbeitgeber in den vergangenen Jahren nicht reihenweise abgewandert, doch gibt es eben immer weniger Beschäftigte in den Fabriken. Wer in der Industrie nicht mehr gebraucht wird, der arbeitet in Singen nur noch prekär oder gar nicht - und kommt irgendwann ins Rentenalter. Engelhardt: "Das sind meist gering qualifizierte Leute, oft auch Menschen, die bis in die 80er Jahre hinein als Gastarbeiter angeworben wurden."

Wie deren Leben aussieht, erfährt Engelhardt, wenn er die Leute fragt, wann sie das letzte Mal am Bodensee waren, der nur zehn Kilometer entfernt liegt. "Manche Menschen wissen das schon gar nicht mehr. Wir haben hier viele Alleinstehende, die oft krank und auf Grundsicherung angewiesen sind. Solche Leute sind nicht mehr mobil. Und das Geld für Bus und Bahn haben sie auch nicht."

Ausflüge zum Bodensee heben die Lebensqualität

Immerhin hat die Tafel jetzt die Möglichkeit, die Situation etwas zu verbessern. Dank einer Spende aus der lokalen Wirtschaft verfügt sie über einen neunsitzigen Kombi. In Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt werden nun Ausflüge zum Bodensee organisiert. Engelhardt will neue Dienste anbieten. "Dann kann man die Lebensqualität der alten Menschen erhöhen", sagt er. Es müsse eine Möglichkeit geben, den Gebrechlichsten das Essen an die Haustür zu liefern. Sein Traum ist eine Art "Tafel auf Rädern".

Der Seniorenanteil unter den Tafel-Gästen steigt deutschlandweit, nach Angaben des Bundesverbands Deutsche Tafel von zwölf Prozent im Jahr 2007 auf aktuell etwa 17 Prozent. "Wir erwarten auch in den kommenden Jahren eine Zunahme älterer Gäste", sagte Sprecherin Anke Assig dem epd. Daran werde auch der "Regierungsdialog Rente" nichts ändern: "Man wird damit nur einen kleinen Teil der Rentner erreichen können."

Millionen Rentner unter dem Existenzminimum

Angesetzt werden müsse an den vielen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen im Osten sowie in anderen strukturschwachen Regionen des Landes, sagt Assig: "Es geht um Millionen von Menschen, die zukünftig eine Rente unterhalb des Existenzminimums erhalten werden."

Auch Udo Engelhardt von der Singener Tafel rechnet mit mehr Senioren. Er kritisiert, dass Staat und Gesellschaft nicht bereit seien, mehr Geld für arme alte Menschen auszugeben: "Es wird einfach akzeptiert, dass ein immer größerer Teil der alten Menschen auf Grundsicherung angewiesen ist."

epd