Stell dir vor, es ist Atomausstieg und keiner geht hin

Stell dir vor, es ist Atomausstieg und keiner geht hin
Union, FDP, SPD und Grüne leiten gemeinsam das Ende der Atomkraft bis 2022 ein. Rot-Grün sagt: "Dieser Ausstieg ist unser Ausstieg." Doch die Debatte im Parlament hat einen Makel. Das historische Ergebnis wird verkündet, als die meisten Abgeordneten schon weg sind.
30.06.2011
Von Georg Ismar und Tim Braune

Kein großer Applaus, kein Händeschütteln, kein Stolz. Als der Vizepräsident des Bundestages, Eduard Oswald, um 13.19 Uhr am Donnerstag das Ergebnis zum historischen Atomausstieg verkündet, herrscht fast gähnende Leere im Saal. Vor ein paar Dutzend Abgeordneten plätschert eine Debatte über die Bankenabgabe dahin. Der Tagesordnungspunkt Energiewende ist da schon abgehakt, es fehlt aber noch die Auszählung der entscheidenden namentlichen Abstimmung. 

 So meldet sich Oswald fast beiläufig - zwischen zwei Rednern - mit dem Resultat zu Wort: 513 Ja-Stimmen von Schwarz-Gelb und Rot-Grün für die AKW-Abschaltung bis 2022. Wochenlang hatten Kanzlerin Angela Merkel und ihr Umweltminister Norbert Röttgen für diesen breiten Konsens geworben und gekämpft. Doch im historischen Moment ist die CDU-Chefin nicht mehr da. Auch keiner ihrer zuständigen Minister sitzt auf der Regierungsbank. Viele Abgeordnete sind in der Kantine.

SPD-Chef Gabriel fordert Neuwahlen von Merkel

Ein seltsamer Kontrast zur Stimmung am Morgen. Da schnellt der Oberkörper von Röttgen immer wieder nach vorne, doch auch der Körpereinsatz am Rednerpult kann SPD, Grüne und Linke nicht überzeugen. Als der Umweltminister mit Blick auf Atomausstieg und Energiewende sagt, "natürlich, das ist ein Lernprozess", bricht die Opposition in johlendes Gelächter aus.

So haben die Abgeordneten gestimmt

Sie wollen Röttgen nicht durchgehen lassen, dass er den Atomausstieg bis 2022 als Erfolg von Union und FDP reklamiert, obwohl im Herbst der letzte deutsche Meiler noch bis mindestens 2036 laufen sollte. Immerhin kann sich Röttgen persönlich zugute halten, damals nur für ein kurzes Laufzeitplus gewesen zu sein. Nach Fukushima war er es dann, der federführend in der Union für die Kehrtwende kämpfte. Acht alte AKW werden sofort abgeschaltet, die übrigen neun Meiler stufenweise von 2015 bis 2022.

Die Kanzlerin lächelt zunächst noch auf der Regierungsbank und tuschelt mit Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP). Doch als SPD-Chef Sigmar Gabriel als Rednerpult tritt und angesichts der Kehrtwenden in der Energie- und Steuerpolitik wenig später Merkel zu Neuwahlen rät, schaut die Kanzlerin mürrisch drein. "Hören Sie einfach auf, das wäre der beste Neustart für unser Land", ruft Gabriel. Merkel kratzt sich am Kopf und trinkt erstmal aus ihrem Wasserglas.

Die Unionsfraktion ist sich nicht einig

Auch wenn Gabriel betont, "dieser Ausstieg ist unser Ausstieg", gehört dieser 30. Juni 2011 vor allem den Grünen. In großen Anzeigen betont die Fraktion in Zeitungen: "Wir schalten ab." Fraktionschefin Renate Künast bedankt sich sogar namentlich bei einigen Anti-Atom- Recken, die seit 30 Jahren trotz Kriminalisierung und Diffamierung auch durch die Union gegen die Atomkraft gekämpft hätten. Sie hätten sich auch an kalten Wintertagen den Wasserwerfern der Polizei entgegengestellt. "Sie haben sich um die Zukunft Deutschlands verdient gemacht." Der CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein dankt als Retourkutsche den Mitarbeitern in den deutschen Atomkraftwerken, die die Sicherheit in den Anlagen garantierten.

Durch die Unionsfraktion geht beim Atomausstieg bis 2022 ohnehin ein Riss. Nicht alle der Abgeordneten wollen ihrer Kanzlerin so bedingungslos folgen. Einige hatten schon 2010 gegen die Laufzeitverlängerung gestimmt, darunter Josef Göppel (CSU), Unions-Obmann im Umweltausschuss."Wenn die Union als Volkspartei mehrheitsfähig bleiben will, muss sie ihren Kurs in der Atomfrage überprüfen", hatte er nach Fukushima gemahnt.

Fraktions-Vizechef Michael Fuchs sieht das ganz anders. Für ihn spielt sich eine Art energiepolitisches Harakiri ab. Aber der Wirtschaftsflügel der Union kann sich in der Atomfrage nicht mehr gegen die Öko-Front durchsetzen. Fuchs war zwar keiner der fünf Unions-Abgeordneten, die zusammen mit den Linken gegen den Ausstieg stimmten. Aber das Tempo der Energiewende sieht er dennoch skeptisch. Die Strompreise müssten insbesondere für die Industrie bezahlbar bleiben, die Zukunft mit erneuerbaren Energien ist ihm zu unsicher: "Ich habe starke Bauchschmerzen bei dem Weg, der eingeschlagen wird."

Die Stromerzeugung ist gesichert - sagt die Regierung

Dass noch einiges zu tun ist, damit der Atomausstieg auch wirklich klappt, weiß die Regierung ebenso gut wie die Grünen. Deren Fraktionsvorsitzende Renate Künast betont in der Debatte, die Zustimmung der Grünen sei ein "Ja, aber" zum Ausstieg. Mehr Sicherheit für die verbleibenden AKW sei nötig, außerdem müsse bundesweit nach einem Atommüll-Endlager gesucht werden.

Umweltminister Röttgen ruft ebenfalls dazu auf, nach vorne zu schauen, aber dreht es positiv: "Das nationale Gemeinschaftswerk geht jetzt los." Es sei ein gutes Zeichen, wenn sich nun Eon-Chef Johannes Teyssen an die Spitze der Bewegung bei der Energiewende stelle. "Das ist ein sehr guter Tag für Deutschland." Der Ausstieg sei auch preislich verkraftbar. Zwar würden durch die acht AKW 6,5 Gigawatt (GW) an Leistung wegfallen, aber Deutschland habe eine gesicherte Stromerzeugungsleistung von 93 Gigawatt, der maximale Verbrauch habe noch nie über 82 GW gelegen.

Linke-Fraktionschef Gregor Gysi erinnert Röttgen daran, dass er sowohl die Laufzeitverlängerung als auch jetzt den Atomausstieg als Revolution gepriesen habe: "Sie sollten mal erklären, was eigentlich eine Revolution und eine Konterrevolution ist." Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kontert, Gysi könne bei Klärung der Frage sicher selbst mit seinem Sachverstand zur Verfügung stehen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland nicht in solchen Debatten versandet. Der Bundestag hat ein klares Zeichen gesetzt – die Aufgabe, die Energiezukunft nach der Atomkraft zu gestalten, ist aber noch lange nicht geschafft.

dpa/evangelisch.de