Zwei Scherben einer Reisschale: Spurensuche nach dem Tsunami

Zwei Scherben einer Reisschale: Spurensuche nach dem Tsunami
Auch fünf Wochen nach dem verheerenden Tsunami leben die Menschen in den betroffenen Gebieten noch im Ausnahmezustand. Die wenigen, die aus den Notlagern kurz zurück zu ihren einstigen Häusern dürfen, erleben Horrorszenarien. Das Meer hat ihr altes Leben weggespült.
15.04.2011
Von Heike Sonnberger

Das Nadelwäldchen hinterm Haus - weg. Die Schutzmauer am Strand - weg. Die Bibliothek im Garten - weg. Ihr Auto und zwei Scherben ihrer Reisschale sind alles, was der 85-jährigen Yoko Tsunoda geblieben sind. Der Tsunami hat ihr Haus in dem japanischen Städtchen Yamashita südlich von Sendai am 11. März zermalmt und mitgenommen. Es stand direkt am Meer.

Yoko Tsunoda lebt noch, weil sie sich sofort hinters Steuer gesetzt hat und durchgestartet ist, als eine Bekannte an ihrem Haus vorbeigeradelt kam, um sie zu warnen. Das Meer hat die Bekannte weggetragen. Yoko Tsunoda kam nach der Jahrhundert-Katastrophe zunächst in einem Notlager unter. Die Sporthalle musste sie inzwischen jedoch wieder verlassen, weil sie als Leichenhalle gebraucht wird. Eine Freundin hat der alten Dame ein Mietshäuschen in Sendai angeboten. Dort wohnt sie nun.

Am vergangenen Wochenende fuhr sie mit ihrer Tochter Yuko und ihrem deutschen Schwiegersohn Wolfgang Behrend zurück nach Yamashita, um ihr altes Haus zu suchen. Mit einer Sondergenehmigung durften sie an der Straßensperre vorbei in die zerstörte Zone. "Nach der ersten Kurve kamen die Horrorszenen", erzählt der 62-jährige Behrend, der in Tokio als Manager bei Bosch arbeitet.

DIe roten Fahnen zeigen die Toten an

Militärfahrzeuge, Soldaten und Trümmerhaufen neben Trümmerhaufen. An vielen Haufen hingen blaue Fahnen: Kann abgeräumt werden. An einigen hingen rote Fahnen: Hier sind noch Tote zu bergen. Vor fast jedem Haufen stand ein Plastikkörbchen für Fotoalben, Notizbücher und andere persönliche Dinge, die der Tsunami vergessen hat.

Von Yoko Tsunodas Haus war nur noch das Fundament zu erkennen, auch der Rasen hatte sich zum Teil erfolgreich an der Erde festgekrallt. Eine Stunde lang stöberten sie in den Trümmern umher. "Wir haben einige hundert Meter weit weg ein Stück der Gartenmauer entdeckt", sagt Behrend. "Und eine blaue Schachtel mit einem fremden Gebiss." Doch die Tagebücher aus fast 80 Lebensjahren, die seine Schwiegermutter so gern wiedergefunden hätte, blieben verschollen.

Das Meer glitzerte smaragdblau in der Frühlingssonne, hin und wieder schäumt die Gischt an den Strand. Vor einigen Wochen knickte der Ozean noch Stahlmasten um, wirbelte Schiffe umher, fegte den Tempel weg, in dem Yoko Tsunoda mit ihrer Familie zu Neujahr oft gebetet hatte. "Dass Wasser so eine Gewalt haben kann, kann ich mir immer noch nicht so richtig vorstellen", sagt ihr Schwiegersohn.

Die Menschen haben spürbarere Probleme als die Strahlung

Die lautlose, unsichtbare Gefahr, die radioaktive Strahlung, interessierte die Familie in dem Moment nicht. Die drei hatten Masken aufgezogen, für alle Fälle. Yamashita liegt etwa 80 Kilometer vom Atomkraftwerk Eins in Fukushima entfernt. "Ich nehme an, die Radioaktivität war höher als in Tokio", sagt Behrend. Geredet haben sie auf ihrem Ausflug nicht darüber. "Wir haben das vorgehabt und durchgezogen."

Auch auf dem Bürgermeisteramt in Yamashita war Radioaktivität kaum ein Thema. Die Menschen haben schlicht zu viele andere Probleme. Vor dem Amt reihen sich meterlang Stellwände mit Vermisstenanzeigen. Gedruckt, handgeschrieben, mit rotem, schwarzem, grünem, blauem Filzstift, mit oder ohne Fotos. "Papa, bitte komm schnell zurück", schreibt eine Tochter namens Eiko. Ein 32-Jähriger, 1,60 groß, Blutgruppe A wird dort gesucht, eine weiße Katze, ein Schuljunge, ein Großvater. Die braunen Klebestreifen wirken wie hilflose Pflaster auf einer viel zu großen Wunde.

Bei ihrem Behördengang hat Yoko Tsunoda einen Bekannten wiedergetroffen. Über der weißen Maske hellten sich seine Augen auf. "Ich wusste, dass du lebst", rief er und die beiden fielen sich in die Arme. Vor dem Tsunami hätten sie sich zur Begrüßung höflich voreinander verbeugt.

dpa