Automatische Nachrufphantasien

Künstliche Intelligenz
Automatische Nachrufphantasien
Immer wieder kursieren Nachrufe über noch lebende Personen – Schuld ist oft die KI.

Meiner Oma ist es wirklich passiert. Was angesichts ihres damaligen Alters von weit über 90 – sie wurde immerhin 102 – aber auch irgendwie nachvollziehbar ist. Sie hatte wirklich noch überlegt, ob sie zur Jubelkonfirmation in ihre Heimatgemeinde gehen sollte - oder wie die 80jährige Konfirmation heißt - aber es war ihr dann doch zu anstrengend. Einige Tage später klingelte das Telefon. Eine alte Freundin aus der Heimat war dran und sagte fassungslos am Telefon: „Du lebst ja noch!“

Es stellte sich heraus, dass ihr Name wohl versehentlich unter den Verstorbenen des Jahrgangs verlesen worden war. Außerordentlich peinlich, große Entschuldigung und so weiter. Oma fand es eher amüsant.

Mittlerweile sollten Sie aber wohl tatsächlich nicht mehr jeder Todesmeldung und jedem Nachruf trauen. Denn so hilfreich Künstliche Intelligenz in manchen Bereichen sein kann: Man kann auch ziemlich viel Mist damit anstellen. Bots durchkämmen das Internet nach aktuellen Todesanzeigen, schreiben irgendwas als „Nachruf“ zusammen und locken trauernde Angehörige damit auf eine Seite, die übervoll mit Werbung ist. Auch wenn es jeweils nur ein paar wenige Aufrufe sind: Die Masse macht’s. Da kommen dann schon ein paar hunderttausend Klicks zusammen – und entsprechende Werbeeinnahmen. Pietätlos? Ja. Manchen ist das aber nun mal völlig egal, solange das Geld auf dem eigenen Konto landet. „Oribituary pirates“, zu deutsch: Nachruf-Piraten, nennt man diese Leute sehr passend. Es gibt sie schon lange, aber KI hat ihre „Arbeit“ deutlich leichter gemacht. Schließlich ist es nahezu egal, was auf der Seite steht – Hauptsache, der Name kommt vor, und nach dem Namen wird rund um den Todestag nun mal vermehrt gesucht.

Dabei geschieht es dann auch, dass Menschen für tot erklärt werden, die noch leben. Besonders krass im Fall eines Ehepaars, Beth Mazur und Brian Vastag, die gemeinsam Artikel über Langzeiterkrankungen nach Virusinfekten geschrieben hatten und selbst chronisch krank waren. Freunde waren sehr schockiert, als um Weihnachten herum plötzlich der Tod von beiden im Netz bekanntgegeben wurde – dabei lebt Brian noch. Vermutlich hatte die KI aufgrund der gemeinsamen Artikel phantasiert, dass auch beide gestorben waren.

Ich würde mir ja wünschen, dass die Menschen gerade in solchen schweren Situationen nicht auch noch auf diese Weise belästigt werden. Dass es noch etwas Pietät gibt, eine vornehme Zurückhaltung, die Notlage von anderen auszunutzen. Leider wird das wohl ein frommer Wunsch bleiben. Für uns aber ist es eine Mahnung, noch weniger als früher jede Meldung und jede Schlagzeile gleich als „wahr“ hinzunehmen.

„Was ist Wahrheit?“ fragte schon Pilatus, als er über Jesus urteilen sollte. Eine einerseits hochtheologische Frage danach, wer Jesus wirklich ist. Andererseits eine ganz profane Frage danach, inwieweit ich den Meldungen um mich herum und meinen eigenen Wahrnehmungen trauen kann.

Was ist Wahrheit? Ich fürchte, diese Frage wird uns in den nächsten Jahren sehr beschäftigen.

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