Machen wir halt nen Gottesdienst

Machen wir halt nen Gottesdienst
In Corona-Zeiten „entdecken“ Menschen auf einmal ihren Glauben – und die damit verbundenen Privilegien

Eigentlich hatte ich vor, heute etwas über die seit heute geltenden Einschränkungen zu schreiben und welche Probleme die Ausnahme für Gottesdienste mit sich bringt. Und warum der Staat aus meiner Sicht den Kirchen damit keinen Gefallen getan hat.

Doch wie es manchmal so geht: Die Entwicklung geht viel schneller voran als ich schreiben kann. Vor kurzem hatten wir schon das Fitness-Studio in Polen, das sich kurzerhand zur Kirche erklärt hat, um weitermachen zu können (gleichzeitig auch noch zu einem Laden, in dem man die zum Verkauf stehenden Geräte gegen eine Gebühr erst mal testen kann). In den sozialen Medien gab es diverse Witze darüber, dass Gaststätten halt jetzt in der Kirche betrieben werden sollten oder ihr Angebot als Gottesdienst verstehen sollen und ähnliches. 

Nun haben die sich selbst als "Querdenker" bezeichnenden Anti-Corona-Aktivisten in München das Ganze wunderbar auf die Spitze getrieben: Da ihre Demonstration in München mehr Menschen anzog als von den Gerichten erlaubt (allerdings deutlich weniger als ursprünglich angemeldet), benannten sie die Demonstration unter freiem Himmel mit etwa 1700 Teilnehmenden kurzerhand um in "Gottesdienst". Und für einen Gottesdienst unter freiem Himmel bei Einhaltung des Mindestabstands gelten bzw. galten zu diesem Zeitpunkt in Bayern keine Einschränkungen hinsichtlich der Teilnehmendenzahl. Nicht mal eine Maske ist Pflicht im Gottesdienst, solange man seinen Platz nicht verlässt – geradezu eine "Erlösung" für die quer denkenden Andächtigen in München. Und das, während gleichzeitig in allen kirchlichen Gottesdiensten, die ich in letzter Zeit besucht habe, bereits durchgehend Masken getragen wurden, Abstände penibel eingehalten wurden, nur einzelne Liedstrophen von einem wechselnden Teil der Gemeinde gesungen wurden, Umluftheizungen abgeschaltet wurden und vieles mehr, um die Infektionsgefahr einzudämmen.

Tatsächlich wurden bei dieser Demo Gebete gesprochen und Lieder gesungen. Sogar der Ex-Fernsehpfarrer Jürgen Fliege, der sich mittlerweile doch – drücken wir es vorsichtig aus – deutlich von "seiner" Kirche entfernt hat, trat zum wiederholten Mal bei einer dieser Demos auf und gab dem Ganzen einen religiösen Touch.

"Ein Gottesdienst ist eine Versammlung, wo zwei oder drei oder mehr versammelt sind im Namen Jesu. (…) Er ist hier, in unserer Mitte! Das glaube ich wirklich!", so rief Christian Stockmann, Vertreter* der (nicht mehr in einer freikirchlichen Organisation vertetenen) Mandelzweig-Gemeinde in Berlin. Er zitierte gleich zu Anfang relativ zusammenhanglos einige Bibelstellen, um auch wirklich klarzustellen, dass es sich hier tatsächlich um einen Gottesdienst handelt. Klar, dass er bei den in der Tat sehr biblischen Grundthemen "Freiheit" und "Frieden" hängen blieb.

Die ganze Sache ging stundenlang so weiter, entwickelte sich aber zunehmend zu einer "normalen" Kundgebung mit eher konzertähnlichen Elementen, so dass die Polizei gegen Ende dann doch einschritt und die Sache beendete. Mit "Frieden" und "Freiheit"-Rufen gingen die Menschen  nach Hause.

Trotz aller Bemühungen, hier einen Gottesdienst zu "zeigen", bin ich ganz persönlich abgestoßen von diesem Missbrauch der religiösen Privilegien, die uns Religionsgemeinschaften (nicht nur den christlichen) gewährt werden. Ich habe noch nicht einmal etwas dagegen, dass Politik und Glaube an verschiedenen Punkten zusammengehören, weil sie gemeinsame Ziele haben. So bin ich der festen Überzeugung, dass die Grundsätze des Konziliaren Prozesses (Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung") für uns Christinnen und Christen auch politisches Handeln nötig machen neben dem Gebet. Und dass es sogar politisch eindeutige Gottesdienste und Predigten gibt. 

Ebenso habe ich nichts dagegen, dass Christinnen und Christen, die die Corona-Politik ablehnen oder sogar das Virus für erfunden halten, sich zum Gebet treffen. Selbst, wenn ich persönlich die dort getroffenen Äußerungen ablehne und nicht verstehen kann, wie man das eigene Leid über beispielsweise ein Besuchverbot und die Einschränkung der persönlichen Freiheit über das Leid der Angehörigen von mittlerweile über einer Million Verstorbenen weltweit stellen kann. Sollen sie es ruhig tun. Auch sie sind mit ihren Sorgen und Nöten von Gott geliebt, auch wenn ich ihre Position nicht teile.

Aber: Eine angemeldete Kundgebung kurzerhand umzufunktionieren in einen Gottesdienst, um die gerichtlich bestätigten Einschränkungen zu umgehen – das halte ich für nicht entschuldbar. Um nicht zu sagen: Für Blasphemie. Zwar hat der Organisator und Rechtsanwalt das am Anfang sehr deutlich gesagt: "Die Kundgebung findet nicht statt, stattdessen feiern wir einen Gottesdienst". Doch allein diese Aussage ändert nichts daran, dass die Menschen eben nicht gekommen sind, um einen Gottesdienst zu feiern, sondern um ihrer Unzufriedenheit mit den Corona-Einschränkungen Ausdruck zu verleihen. Dass sich Pfarrer (keine -innen) für diese Farce zur Verfügung stellen, kann ich nicht nachvollziehen. Dass mit Jürgen Fliege sogar ein pensionierter Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland dabei ist, ist mir wirklich eine Anfechtung.

Vielleicht schreibe ich demnächst doch noch etwas über die Ausnahmeregelungen für Gottesdienste. Da gibt es durchaus gewichtige Gründe für beide Positionen, pro und contra. Dieser Missbrauch der Regelung ist da jedenfalls nicht gerade hilfreich.

Bleiben Sie gesund – und wo immer möglich, bleiben Sie in diesem November zu Hause.

 

Update 2.11. 22:15: Vorname und Wohnort von Christian Stockmann nachgetragen und den Satz entsprechend abgeändert.

*Update 3.11. 10:20: Das Café Mandelzweig ist im Frühjahr 2020 aus dem Verband freikirchlicher Pfingstgemeinden ausgetreten. Herr Stockmann steht damit nicht mehr auf der Liste der ordinierten Pfarrer. Die ursprüngliche Bezeichnung "Pastor" habe ich daher durch "Vertreter" und einen Hinweis auf seine Gemeinde ersetzt. 

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