radikaler Glaube

radikaler Glaube

Es ist eine Weile her, dass ich in diesem Blog zum letzten Mal etwas geschrieben habe. Ehrlich gesagt: Es fiel mir schwer, in diesen emotional aufgeheizten Zeiten munter und fröhlich vor mich hin zu bloggen, als wäre nichts gewesen. Es scheint, als würden alle Fragen rund um das Thema Glauben auf allen Seiten immer weiter emotionalisiert und radikalisiert. Ob ISIS, Pegida oder biblizistische Gruppierungen, vor allem in den USA: Alles scheint immer radikaler zu werden. Und nun noch dieser Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo in Frankreich, für den mir jegliche Worte fehlen. Radikale Muslime. Rechtsradikale. Linksradikale. Immer wieder dieses Wort: Radikal. Von Lateinisch „Radix“, die Wurzel. Also eigentlich: Eine Rückbesinnung auf das Wesentliche, den Beginn von allem, die eigene Kraftquelle, die eigene Wurzel. Ich zitiere mal Wikipedia an dieser Stelle:

Das Adjektiv „radikal“ ist vom lateinischen radix (Wurzel) abgeleitet und beschreibt das Bestreben, gesellschaftliche und politische Probleme „an der Wurzel“ anzugreifen und von dort aus möglichst umfassend, vollständig und nachhaltig zu lösen. (...) Vor allem im deutschen Sprachraum hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein Bedeutungswandel vollzogen, sodass die Bezeichnung heute Strömungen jedweder politischen Couleur meinen kann, die ihre Ziele kompromisslos und häufig in Opposition zur herrschenden Ordnung verfolgen. In diesem Sinne spricht man etwa vom Links- oder Rechtsradikalismus. 

Heute musste ich an einen von mir sehr geschätzten Theologieprofessor aus meiner Studienzeit denken. Hermann Dembowski aus Bonn wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Nicht nur für seine über das gesamte Semester konsequent durchgezogenen Überschriftsnummerierungen („7.3.6.1.2.1. Wurzel der Wende von Mensch und Welt: Ankunft Jesus Christi als Rettung“ - kein Witz, sondern aus meinem Vorlesungsskript hier hineinkopiert), sondern vor allem für seine hingebungsvolle und überzeugende Art, von Gott zu sprechen. Er war einer dieser Professoren, die für die Lehre lebten – und der darüber fast vergaß, jemals ein Buch zu schreiben. Und das, was er uns lehrte, hat mich geprägt wie kaum ein anderer.

Unter anderem benutzte er sehr häufig genau dieses Wort: Radikal. Und er benutzte es ganz anders, als wir das vielleicht vermuten würden: Für ihn war es eine Eigenschaft Gottes, und zwar eine vollkommen positive. Gott kommt uns Menschen radikal nahe. Das heißt: Bis zu den tiefsten Wurzeln des Menschseins, ja sogar bis in den Tod, nimmt Gott radikal am menschlichen Leben teil. Die Grundbotschaft Jesu ist für Dembowski die radikale Annahme des Menschen. Ohne Vorbedingungen. Ohne Einschränkungen. Gott wendet sich in Jesus jedem Menschen radikal und bedingungslos zu, doch er wird darin auch zum Wendepunkt, an dem sich die Geister scheiden. Und Jesus ist der, der die Beziehung zu Gott neu radikalisiert, vielleicht sogar durchbricht: Entgegen der jüdischen Scheu, Gottes Namen zu nennen, sagt Jesus in großem Vertrauen „Vater“, „Abba“.

Das ist unsere Botschaft als Christen: Gott bietet uns die radikal-liebevolle Annahme. Gott ist es, der unsere Grenzen überwindet. Radikal und ohne Vorbedingungen. Und genauso sollen auch wir einander annehmen und Frieden miteinander halten.

Ja, in allen großen Buchreligionen gab und gibt es immer wieder Tendenzen zur Gewalt. So sind wir Menschen, es scheint leider in uns angelegt zu sein und findet seinen Niederschlag auch in unseren religiösen Büchern.

Doch hier bin ich radikal, hier lege ich mich fest: Eines der Grundworte von Judentum, Christentum und auch Islam ist der Friede. Hebräisch: Schalom. Arabisch: Salam. Ein Wort, über das besagter Professor Dembowski übrigens auch eine ganze Vorlesung gehalten hat. Denn Schalom, das bedeutet unendlich viel mehr als das Schweigen von Waffen. Schalom, das bedeutet: Radikale Versöhnung von Mensch, Natur und Gott.

Der jüdische Prophet Jesaja drückt es so aus:

Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.(Jesaja 65,25)

oder auch so:

Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt. (Jes 11, 8-9).

Und im christlichen Neuen Testament beschreibt die Offenbarung des Johannes diesen Frieden so:

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. (Offb 21,4)

Im Koran lesen wir in Sure 5, Vers 32:

Wer einen Menschen tötet, für den soll es sein, als habe er die ganze Menschheit getötet. Und wer einen Menschen rettet, für den soll es sein, als habe er die ganze Menschheit gerettet.

Auf die übrigen Religionen möchte ich heute nicht weiter eingehen. Doch ich wage heute zu sagen: Allen Religionen ist dieses Streben nach Frieden, Versöhnung und Liebe radikal – an der Wurzel – gemeinsam. Menschen machen daraus allerdings die fürchterlichsten Dinge. Egal, ob mittelalterliche Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, ISIS, Boko Haram oder Charlie Hebdo: Wer Menschen im Namen einer dieser Religionen Leid zufügt oder tötet, stellt sich außerhalb seiner eigenen Religion und fügt ihr selbst mehr Schaden zu, als dass er ihr nützt.

weitere Blogs

Symbol Frau und Sternchen
Geschlechtsneutrale oder geschlechtssensible Sprache erhitzt seit Jahren die Gemüter. Nun hat die Bayrische Landesregierung das Gendern verboten. Die Hessische Landesregierung will das Verbot ebenfalls einführen.
Ein spätes, unerwartetes Ostererlebnis der besonderen Art
Ein mysteriöser Todesfall, das Mauern der Einheimischen und eine latente Homophobie begegnen einer lesbischen Pastorin bei ihrer Ankunft in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aus der Großstadt bringt sie zudem ihre persönlichen Konflikte mit. Beste Zutaten für den Debütroman „In Hinterräumen“ von Katharina Scholz.