Uns in Bayern geht es gut. Die Sommerferien sind noch nicht vorbei. Dennoch zeigen sich auch hier die Vorboten des Herbstes. Die ersten Blätter fallen, die Zeilen Rilkes werden wahr:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Doch ich will nicht, dass sie fallen. Es ist zu früh für Herbstzeitloses. So heißt mein Schatzkästchen, in dem ich die schönen Zeiten aus dem Sommer aufbewahre für die Zeit der Dunkelheit. Die langen Abende und lauen Nächte, das Lesen draußen auf den Wiesen und Plaudern über dies und jenes, der weite Blick zum Himmelszelt, an dem ein Sternschnüpplein sich ganz kurz zeigt, die Zeit, die war, unendlich schien, genauso wie die Sonne. So viel Frieden, so viel Freiheit …
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Eigentlich sind Herbstzeitlose Pflanzen. Sie blühen jetzt. Sie sind schön anzusehen, aber sehr giftig. 2010 wurden sie zur Giftpflanze des Jahres gewählt; es war mir vorher gar nicht klar, dass es das gibt. Beim „geringsten Verdacht einer Vergiftung“ soll man sich „unverzüglich in ärztliche Behandlung begeben“, informiert die Homepage der Stadt Hamburg. Auch für Tiere ist sie unverträglich. Die arme Herbstzeitlose, sie kann doch nichts dafür. So viel Wehmut …
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Längst ist der Alltag wieder da, die Politik kennt keine Pause. Im Nahen Osten will und wird kein Friede werden, die Ukrainer:innen wissen nicht mehr ein und aus. Derweil wird in Deutschland eine Politik gemacht, für die man sich nur schämen kann.
Zurzeit ist Ruhe. Doch die trügt. Denn was vorher war, hat tiefe Wunden hinterlassen.
Da wird „Kultur“ betrieben, die diesen Namen nicht verdient, man denke an das Verbot des Regenbogens oder der gendergerechten Sprache mit einer unverhohlenen Drohung namens Geldentzug. Da wird der Ruf einer angesehenen Juristin ruiniert, weil man der rechten Hetze glaubte. Man polarisierte, polemisierte und diffamierte, dass sich die Lügenbalken bogen. Am Ende gab die Juristin auf. Um Schaden von der Demokratie und dem höchsten Gericht abzuwenden, wie sie sagt. Dabei hat sie den Schaden gar nicht angerichtet.
Was das alles mit dem Menschen macht, dem Einzelnen, den vielen, scheint einerlei. Wo ist das leise Wort geblieben, das dieses Land so dringend braucht? Wo ist der Wille, zu erklären und Fehler auch mal zuzugeben? Wo ist das geblieben, was einmal Anstand hieß? So viel Gift…
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Ob Gott auch das in seinen Händen hält? Das Streiten und die Hetze? Ich glaube nicht. Mich stimmt der Satz trotzdem heiter. In einer Zeit, die jahreszeitlich und politisch dunkler wird, gibt er mir Kraft. Er gibt mir Kraft, nicht immer hinzuhören, wenn Politiker:innen hässlich debattieren. Er gibt mir Kraft, die schönen Zeiten wachzuhalten. Und wenn ich falle? Macht es nichts. Ich habe ja mein Herbstzeitloses mit meinen Schätzen aus der Sommerzeit. Und außerdem ist da doch jemand, der mich hält und immer zu mir hält. So viel Dankbarkeit…