Immer wartet etwas in uns auf Geburt

Immer wartet etwas in uns auf Geburt
Wie wir mit dem Vulkanischen in uns im Advent leben lernen können

Immer wartet in uns etwas auf seine Geburt.

Immer ist das, was wir eigentlich sind größer als das, was wir leben.

Julia könnte auch Kinder-Animateurin in Miami sein. Sie verkauft aber Reisen in Celle. Sie hätte den Blick für Architektur und das Ohr für fremde Klänge. Aber das kann sie nur ahnen. Ihre Entscheidung fiel einmal anders aus. 

Jede merkt, was noch möglich wäre an den wiederkehrenden Pubertäten: es summt in den Knochen, die Glieder wollen etwas  - aber noch ohne Ziel. Ein anderer Mann hätte es auch sein können, eine andere Stadt. Eine einzige Palme im Fernsehen beißt hell ins Herz, und schon ist die Fantasie unterwegs: Nicht nur Reisen verkaufen, sondern selber reisen und darüber schreiben? Bin ich eigentlich noch ganz anders? 

Verläßlich stellen sich unter der scheinbar festen biografischen Erdkruste tektonische Verschiebungen ein. Hochhäuser und andere Lebensgebäude wackeln. In der Tiefe Magma, glühend. Gelegentlich Ausbrüche vulkanischer Natur. So ungeheuer flüssig wie der Erde Inneres, so unermeßlich reich ist die Seele. Wir könnten so viel mehr als in diesem Leben. 

Christen reden mit ihrem Gott, sie sagen: „Deine Größe ist unausforschlich!“.
Das gleiche gilt auch für alle. Die Größe jeder Person ist unausforschlich. 

Deswegen kehren in Abständen diese Wandlungen wieder, auch wenn ich dachte, ich sei schon ganz schön fertig und endlich stabil. Aber fertig sind wir erst im Tod, und selbst da: wer weiß … -  vielleicht sehen wir dann die ganze Vielfalt unserer Tiefen und Gebirge. Das wäre die ungeheure Landschaft, die immer in uns wohnte und bereist werden wollte.
Wäre der Advent eine Chance, sich so etwas zu fragen? Z.B., ob ich ahne, was noch in mir steckt? 

Aber es war und ist richtig, das eine zu tun, sich zu entscheiden, das Überschaubare zu wählen -  man wird ja sonst ganz betrunken von all den Möglichkeiten. 

Aber wenn solche Magma an die Oberfläche drängt, dann kündigt sich doch manchmal Größeres an: 

Da ist die 17jährige, die einem Mann namens Josef versprochen ist. Sie tut, was alle Mädels in der Zeit tun: sich auf ein Leben in einer Ehe vorzubereiten, den Eltern zu helfen, zu träumen und zu arbeiten, was anliegt. Aber in ihr wohnen ganz andere Welten. Die erscheinen, als eines Tages ganz am Rand ihres Sehfeldes eine Figur auftaucht. Eine Palme? Eine Stimme? 

Etwas Helles jedenfalls, anders als alles. Mit Flügeln wohl und zum Fürchten auch. Dies andere spricht: In dir bereitet sich etwas Großes vor - oh oh. Was soll mir das? Ich bin doch anders versprochen. Und nun das? 

Das Summen in den Knochen, die schlaflosen Nächte. 

Eine Zeugung ist hier Bild für das, was nun wachsen will. Neun Monate wird es reifen. Bei manchen dauert es neun Jahre. 

Was nun geschieht, will einfach nur erwartet werden. Das Erdbeben unter den Füßen, die heiße grundlose Freude beim Aufwachen, das Weinen ohne Anlaß in der Bahn.  Mir selber zuschauen, wie in mir gearbeitet wird. Warten darauf, dass etwas ausgetragen und endlich geboren wird. Marianische Existenz in guter Hoffnung. 

 

Die kirchlichen, die anderen Zeiten wie Advent und Ostern spielen ein ernstes Spiel mit uns rund um diese grundlegenden Erfahrungen. Sie sprechen die Sprache der Seele, sie sind keine Information wie die Nachrichten im Radio. Jedes Jahr wiederholen sie rituell ekstatische Zustände und Engelserscheinungen. Der Kirchen-Advent erzählt im Gottesdienst u.a. von der 17jährigen mit dem Engel. In homöopathischen Dosen erinnert dieser Kreislauf an das, was immer wieder passiert. Spricht auch seltsame Wörter: Horche, Gotteskind! Horch hinein in die großen Räume, die auch noch begehbar wären. Lass dich nicht zu schnell besetzen von Sachen, die dir den Horizont vernageln. Bleib ‚jungfräulich‘ empfänglich, denn immerzu kann Großes mit dir geschehen. 

 

Was dann entsteht, braucht Begleitung. Der Entschluss zu reisen und Reisebücher zu schreiben, die Scheidung zugunsten einer neuen Liebe. Das Kind der 17jährigen wird von schützenden Träumen, Schafhütern und fernen Gestalten begleitet werden. Was geboren wird, braucht Schutz -  noch ist es klein. 

Das gleiche gilt vielleicht auch für Familien, Dörfer, Vereine, Länder und Kontinente: Auch sie entwickeln sich in wiederholten Geburten und Umbrüchen.

Und was tut Gott?
Mein Gott wächst  - mit mir zusammen. Ich glaube, er ist es selbst, der in mir in diesen Wandlungen zu sich kommt. Gott wäre das Ganze meiner Möglichkeiten. Er wäre  Palme, Engel, Fernweh und  meine Antwort darauf. Er entstünde mit mir und jeder anderen neu. Würde sich an meiner Geburt freuen, weil er sie in mir miterlebt. Nicht nur in Jesus, sondern in Jesus  als einer Art lebendem Traum. In dem könnte ich sehen: Gott wird immerzu gezeugt, ausgetragen und geboren. 

Nicht jeder steckt  im Advent in einer biografischen Wandlung. Aber jeder kennt so etwas. Die Zeit der Erwartung kann daran erinnern. Die Adventszeit mit ihren Riten  selbst erreicht alle jährlich in einem neuen Zustand. Nie bin ich der gleiche wie im Vorjahr. Am Wiederholten merke ich meine Veränderungen. Letztes Jahr war Oma noch dabei. Letztes Jahr konnte ich vor Schmerzen nicht Rad fahren, dieses Jahr geht es wieder. Ich spüre noch die Kinder-Hitze beim voreiligen Öffnen und Schließen der Heiligabend-Tür - heute kann ich warten. Mein ganzes Leben samt aller Etappen ist plötzlich präsent in dieser Zeit.

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