"Mittwochs gehen mein Mann und ich jetzt tanzen"

Auf dem Buchcover der Dokumentation KIRCHE positHIV (1993-2020) ist ein Gottesdienst in der Kirche am Lietzensee, Berlin zu sehen.
Cover der Dokumentation "Die Ökumenische Aids-Initiative KIRCHE positHIV (1993-2020); Montage: RH
KIRCHE positHIV; HIV/Aids; Queeres Engagement
"Mittwochs gehen mein Mann und ich jetzt tanzen"
Ein Blick zurück auf das Wirken der Ökumenischen Aids-Initiative KIRCHE positHIV. In einem Gespräch mit Mitarbeiter Tim Beyer geht es auch darum, weshalb sich Menschen innerhalb ihrer Kirche engagieren.

Die Ökumenische Aids-Initiative KIRCHE positHIV ist Geschichte. Ein Abschiedsgottesdienst in der Berliner Kirche Am Lietzensee - über den ich hier im kreuz&queer-Blog berichtete - markierte am 1. März 2020 das Ende von über 25 Jahren gemeinschaftlichen seelsorglichen und politischen Engagements mit und für von der Immunschwächekrankheit Aids betroffene Menschen. Schon im Vorfeld gab es die Idee, die Geschichte und wenigstens einige der Geschichten, die sich mit dieser Initiative verbinden, in einer Dokumentation festzuhalten und zu erinnern. Mich interessierte dabei vor allem, weshalb es zu dieser Arbeit kam und was die Menschen zur Mitarbeit in einer innerkirchlichen Initiative motivierte, die in Reaktion auf das Schweigen und Verdrängen der Kirchenleitungen entstand.

Zusammen mit Axel Schock, der sich schon seit vielen Jahren journalistisch mit der Geschichte von Aids befasst, konnte ich für ein Dossier in Akten recherchieren, umfangreiches Material sichten. So finden sich in dem Ende letzten Jahres fertiggestellten, knapp zweihundertseitigen Band Darstellungen der konkreten Arbeit von KIRCHE positHIV, vom Gedenkbuch über Einzelfallhilfe bis zu gemeinsamen Aktivitäten der Mitglieder, ebenso wie Predigttexte aus Gottesdiensten verschiedener Jahre - und zahlreiche Interviews, die wir mit Mitarbeitenden und Begleitern führen konnten, wie auch das folgende Gespräch mit Tim Beyer. Ich habe es im Herbst 2021 mit ihm geführt. Beim erwähnten Abschiedsgottesdienst im März 2020 wurde er vom Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf mit einer Dankesurkunde für über 20 Jahre ehrenamtliche Tätigkeit geehrt.

Tim, wie bist du zu KIRCHE positHIV gekommen?

Dadurch, dass ich zu spät zum Rosenstolz-Konzert kam. Das muss 1997 gewesen sein. Das Konzert hatte schon begonnen und im Eingangsbereich war ein ehrenamtlicher Mitarbeiter von KIRCHE positHIV gerade dabei, seinen Info-Tisch mit Flyern, Giveaways etc. einzupacken. Mit dem habe ich mich dann unterhalten und er hat mir von der Arbeit in der Initiative erzählt. HIV und Aids fanden damals für mich eher in den Medien statt. Ich selber kannte bis dahin niemanden, der infiziert und/oder erkrankt war. An diesem Abend hatte ich das erste Mal wirklichen Kontakt mit dem Thema. Kurz nach dem Gespräch bin ich dann zu einem Abendgottesdienst von KIRCHE positHIV in der Kirche Am Lietzensee gegangen.

Welche Rolle spielte Religion, der protestantische Glauben für dich damals?

Ich bin im Rheinland aufgewachsen. Wie viele Jugendliche hatte ich nach der Konfirmation keine Verbindung mehr zur evangelischen Kirche. Ab und zu habe ich noch bei Festen in der Gemeinde ausgeholfen, aber mehr als Weihnachten und Ostern war das eigentlich nicht. Beruflich bin ich dann erst nach Hamburg, schließlich 1993, da war ich 28 Jahre alt, nach Berlin gezogen, wo ich auch Anschluss an eine Kirchengemeinde fand.

In diese Zeit fiel auch dein Coming-out ...

Die Reaktionen in der Gemeinde waren gemischt. Ein kleiner Teil hatte Probleme; einer ließ mal so was anklingen wie: „Das nervt mich jetzt total, dass da schon wieder einer ist.“ Ein großer Teil bot Gespräche an. Sie erzählten, dass es in ihren eigenen Familien schwule Männer gäbe und sie dadurch Bescheid wüssten, welche Probleme sich für Homosexuelle ergeben können. Es gab also ehrliche, ernstgemeinte Angebote der Unterstützung.

Wie hast du deinen ersten Gottesdienst von KIRCHE positHIV erlebt?

Der Abendgottesdienst war für mich eine völlig neue Erfahrung, weil die Liturgie viel intensiver rüberkam als in meinem „gewöhnlichen“, eher knapp gehaltenen Sonntagsgottesdienst. Auch dass zusätzlich zum Organisten, der die Lieder begleitete, ein weiterer musikalischer Akzent durch eingeladene MusikerInnen gesetzt wurde. Mich hat das damals mit einer festlichen Stimmung erfüllt. Was mich extrem beeindruckte, war die Möglichkeit zur persönlichen Segnung. Auch das liturgische Singen hatte ich bis dahin nur in katholischen Messen kennengelernt.

KIRCHE positHIV wurde zu einem wichtigen Teil deines Lebens, auch über die Gottesdienste hinaus.

Ja, Ich habe versucht, mich voll bei KIRCHE positHIV einzubringen. Vielleicht nicht so sehr, was das Geistliche oder das Künstlerische angeht. Ich bin eher der Typ fürs Technisch-Praktische, der anpackt, wenn etwas zu tun ist. Ich reservierte mir alle Mittwochabende: In der Anfangszeit gab es da eine feste Struktur. Am ersten Mittwoch des Monats war stets das Treffen vom Basis-Team; am zweiten das Liturgie-Team für die Gottesdienste; am dritten der Bibelkreis und am vierten das Treffen im Café PositHIV. Wenn es einen fünften Mittwoch im Monat gab – und diese Mittwoche wurden schon ein halbes oder ein ganzes Jahr im Voraus herausgesucht –, dann gab es etwas Spezielles: einen Ausflug, ein Abendessen, eine Exkursion in der Stadt oder eine vogelkundliche Führung an der Havel.

War die Gruppe von KIRCHE positHIV zugleich auch deine Schwulengruppe, deine Community?

Mein schwules Leben hat sich szenemäßig nicht so spektakulär entwickelt; meinen Mann habe ich bald nach meinem Coming-out über eine Anzeige kennengelernt und bin seitdem mit ihm zusammen. Auf Kirchentagen waren manchmal Männer am Stand, die waren eindeutig mehr als an unserer Aufklärungsarbeit daran interessiert, andere schwule Männer kennenzulernen. Da musste man manchmal doch klar machen, dass KIRCHE positHIV keine Partnervermittlung ist. (lacht)

Engagierte sich dein Mann auch bei KIRCHE positHIV?

Dorothea Strauß, Mitbegründerin von KIRCHE positHIV, bezeichnete ihn etwas scherzhaft als „erweitertes Basis-Team“, also als jemanden, den man ab und zu ansprechen konnte, wenn dringend weitere Helfer benötigt wurden. Meist haben wir gemeinsam Schichten auf dem Stadtfest-Stand übernommen. Er war oft mit mir zusammen bei den Sonntagsgottesdiensten. Er hat sich aber dann für das Denk mal positHIV, die Grabstätte auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg, engagiert.

Wann wurde dir bewusst, dass die Arbeit in und für KIRCHE positHIV zu einem Ende kommen würde?

Über einen so langen Zeitraum gab es immer wieder mal Brüche. Den Weggang von Mitbegründer Norbert Plogmann 2001 habe ich als solchen empfunden. Neben Dorothea Strauß war er die prägende Person der ersten Jahre.

2003 war der große Ökumenische Kirchentag in Berlin – es war uns klar, dass wir solch ein Ereignis mit all den internationalen Besuchern nicht mehr würden toppen können. Der nächste, 2010 in München, war dann schon überschattet vom Tod eines unserer Mitarbeiter und vom Tod der Politikerin Hanna-Renate Laurien, unserer Schirmherrin. Danach, so scheint es mir, haben wir nicht mehr zur früheren Größe zurückgefunden.

Es kamen auch weniger neue Mitarbeiter nach. Wir mussten überlegen, was noch zu leisten war. Für uns waren und blieben die monatlichen Gottesdienste von großer Bedeutung. Wobei 2016 der Umzug in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz dann ebenfalls zur Zäsur wurde.

Inwiefern?

In der Kirche Am Lietzensee war es ein über Jahre hinweg eingespieltes Team. Das war in der Gedächtniskirche so nicht mehr möglich, und wir haben uns nicht so geliebt gefühlt wie am Lietzensee. Zudem änderte sich das Publikum, es waren sehr viele Touristen. Die fühlten sich zwar besonders angesprochen durch den Gottesdienst, so wie ihn KIRCHE positHIV gestaltet hat, da sie aber bald die Stadt wieder verließen, hatten wir gar keine Chance mehr, Längerfristiges aufzubauen. Der Standort Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war einfach nicht zukunftsbehaftet. Und es wurde schwieriger, Aufmerksamkeit zu schaffen – sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in der evangelischen Kirche.

Als die Entscheidung feststand, dass es enden würde, wie war das für dich? Denn KIRCHE positHIV war ja schon ein großer Teil deines Lebens.

Für mich war immer klar: Wenn Dorothea Strauß nicht mehr weitermacht, dann gibt es für mich auch keine KIRCHE positHIV mehr. Auch schon wegen des persönlichen Verhältnisses. Sie hat die Lebenspartnerschaft mit meinem Mann gesegnet. Für mich gehören KIRCHE positHIV und Dorothea untrennbar zusammen.

Gibt es in irgendeiner Form einen Ersatz für dich?

Nein! Ich habe keine Möglichkeit für mich gesehen, kirchliche Aids-Arbeit weiterzumachen. Ich helfe noch ein wenig bei Denk mal positHIV aus, so wie mein Mann ab und zu bei KIRCHE positHIV ausgeholfen hat. Aber in meiner Freizeit mache ich anderes. Ich habe vor einigen Jahren angefangen, mich stärker in meiner Gemeinde zu engagieren. Und am Mittwochabend, der nun nicht mehr mit Terminen von KIRCHE positHIV belegt ist, da gehen mein Mann und ich jetzt tanzen!

Info: Eine ausführliche Fassung des Gesprächs mit Tim Beyer findet sich in der Dokumentation „Die Ökumenische Aids-Initiative KIRCHE positHIV (1993-2020)“. Bei Interesse an einem Exemplar der Dokumentation bitte an die Superintendentur der Evangelischen Kirche Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin wenden. Die Publikation wird kostenfrei und solange vorrätig verschickt. Wer in Berlin ist, kann sie nach Absprache auch während der Öffnungszeiten in der Suptur abholen. Kontakt: suptur@cw-evangelisch.de

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