Komm heraus!

Komm heraus!
Nebel
© Kerstin Söderblom
Der heutige Blogeintrag ist eine Textmeditation über die biblische Geschichte von der Auferweckung des Lazarus aus queerer Sicht.

Für die Textmeditation zitiere ich den Bibeltext und formuliere zu einigen Schlüsselworten aus dem Text eigene Assoziationen. Dadurch versuche ich, momenthaft eine Wort-Brücke zwischen dem Bibeltext und meinem Lebensumfeld im 21. Jahrhundert aus queerer Perspektive herzustellen. Die biblische Textgrundlage steht im Johannesevangelium (Joh 11, 1 - 45). 

1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta.
2 Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder Lazarus war krank.

Krank.
Was krank macht:
Verstecken, verstummen, Masken tragen.
Doppelleben führen.
Nicht ehrlich sein können.
„Ja, meine beste Freundin fährt mit mir in den Urlaub.“
„Wie schön, dass Sie nicht alleine fahren müssen.“
Gute Miene zum bösen Spiel.
Versteckt fühle ich mich sicherer.
Wer weiß, was sonst die Familie, Nachbarn, Vorgesetzte sagen.
Ich fühle mich nicht sicher.
Das macht mich krank.

3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du liebhast, liegt krank.

Der, den du liebhast.
Jesus liebt Lazarus.
Lazarus liebt Jesus.
Heißt: sie mögen sich. Sie verstehen sich.
Mehr geht nicht.
Alles andere ist undenkbar.
Ist ungehörig, unsittlich, unmöglich.
Jesus, der Sohn Gottes.
Na klar, er liebte alle seine Lieben.
Hat er nicht gesagt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Na also.
Überinterpretieren ist nicht zulässig.
Liebhaben und liebhaben.
Das sind zwei ganz verschiedene Sachen.
Jesus liebt Lazarus.
Lazarus liebt Jesus.

4 Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.
5 Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus.
6 Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war.

Verzögerung
In den Schuhen ist Blei.
Je schneller ich laufe,
desto weiter weg gerät das Ziel.
Ich will los.
Aber ich werde aufgehalten.
Hier noch ein Termin,
da noch eine Verpflichtung.
Sachzwänge. Verantwortung.
Ich komme nicht los.
Jeder Schritt ein Kampf.
Jeder Tritt wackelig, zu viel.
Es dauert… zu lang.

7 Danach spricht er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa ziehen!
8 Die Jünger aber sprachen zu ihm: Rabbi, eben noch wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dorthin ziehen?
    

Steinigen
Er ist anders. Er ist fremd.
Er irritiert. Er spielt nicht nach den bekannten Regeln.
Er hält sich nicht an die bekannten Gesetze.
Er ist anders.
Wir müssen ihn stoppen.
Bekämpfen. Entzaubern. Beseitigen.
Steinigen.
Wer ohne Sünde ist,
werfe den ersten Stein.

 9 Jesus antwortete: Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wer bei Tage umhergeht, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt.
10 Wer aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm.

Tag und Nacht
Licht ist hell, klar, sicher, positiv, sagt man.
Nacht ist dunkel, gefährlich, erschreckend, brutal, sagt man.
Ich bin ein Kind der Nacht.
Verstecke mich, brauche den Schutz der Dunkelheit.
Brauche die späten Stunden für versteckte Treffen, 
verschämte Begegnungen, Liebe ohne Sichtbarkeit.
Verstecktes Leben. Leben im Schrank.
Mit Maske. In der Dunkelheit.
Ich gehe am Tag unter.
In der Scheinwelt.
Im Rampenlicht der Lügen und Geschichten.
Ich brauche die Dunkelheit zum Überleben.
Was ich erst spät erkenne:
Ich brauche auch das Licht.

11 Das sagte er, und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke.
12 Da sprachen die Jünger zu ihm: Herr, wenn er schläft, wird's besser mit ihm.
13 Jesus aber sprach von seinem Tode; sie meinten aber, er rede von der Ruhe des Schlafs.
Schlaf und Traum, Tod und Leben

Jeder Schlaf ist ein Tod.
Und jeder Tod ist ein Schlaf.
Schlafen gehen,
wenn leben zu anstrengend ist.
Rückzug.
Unter die Bettdecke.
Ab in die Dunkelheit.
Helligkeit und Licht ertrage ich kaum.
Wenn die Lügen zu viel werden.
Das Doppelleben zu kompliziert.
Wenn die Maske drückt und den Atem nimmt.
Dann ist Schlaf ein Segen.
Jeder Schlaf ist ein Tod.
Und jeder Tod ist ein Schlaf.

14 Da sagte ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben;
15 und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen!
16 Da sprach Thomas, der Zwilling genannt wird, zu den anderen Jüngern: Lasst uns mit ihm gehen, dass wir mit ihm sterben!
    

Mit ihm gehen
Lasst uns mit ihm gehen.
Durch die Nacht. Durch Hindernisse. Durch Gefahren.
Gemeinsam, nicht allein.
Lasst uns mit ihm gehen.
Das Ziel nicht kennen.
Nur mit gehen.
Mit-leben. Mit-sterben.
Nicht allein.
Im Leben. Im Sterben.
Nicht allein.

17 Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen.
18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt.
19 Viele waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders.
20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen.

Trauern und trösten
Wir hatten ja keine Ahnung.
Wenn wir das gewusst hätten.
Wir hätten uns eher gekümmert.
Wie tragisch. So ein sympathischer junger Mann.
Das hätten wir nie gedacht.
Er ist doch nicht so einer.
Nein, er sieht doch so normal aus.
Das kann nicht sein.
Wie konnte das passieren?
Was sollen die Eltern denken?
Was sollen die Nachbarn sagen?
Was haben sie falsch gemacht?
Das haben sie nicht verdient.
Das ist das Ende.

21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.
23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen.
24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.
25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe;
26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.

Glaubst du das?
Glaubst du an das Leben?
Glaubst du dran frei zu sein? 
Frei vom Doppelleben.
Frei von Angst.
Frei zu sein, die ich bin.
Nicht mehr lebendig begraben.
Nicht mehr im Grab der Lügen.
Nicht mehr im Grab der Masken und Verstrickungen.
Endlich frei.
Glaubst du das?

27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.
28 Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria und sprach heimlich zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich.
    

Heimlich
Heimlich, dass es keiner hört,
Heimlich, dass es keiner sieht, keiner weiß.
Heimlich ein Kuss.
Heimlich ein anderes Leben.
Heimlich jemand ins Vertrauen ziehen.
Endlich was sagen.
Endlich aus der Gruft von Lügen und Schweigen steigen.
Ein Anfang.
Endlich.

29 Als Maria das hörte, stand sie eilends auf und kam zu ihm.
30 Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch dort, wo ihm Marta begegnet war.
31 Als die, die bei ihr im Hause waren und sie trösteten, sahen, dass Maria eilends aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie dachten: Sie geht zum Grab, um dort zu weinen.
32 Als nun Maria dahin kam, wo Jesus war, und sah ihn, fiel sie ihm zu Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
 

Wärst du nur
Wärst du nur da gewesen.
Vielleicht wäre ich mutiger gewesen.
Weniger isoliert, weniger verängstigt, weniger erstarrt,
weniger außer mir.
Wärst du nur da gewesen,
hätte ich mehr Mut gehabt
Aufzustehen.
Aus der Gruft der Lügen.
Aus dem scheinbaren Schutz des Schweigens, der Dunkelheit.
Aus dem Leben, das nicht meins ist.
Wärst du nur…

33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und erbebte
34 und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh!
35 Und Jesus gingen die Augen über.

Über die Augen
Über die Augen
kommen die Tränen.
Über die Augen
werden die Grenzen flüssig
zwischen
Hell und dunkel,
klar und verschwommen,
richtig und falsch,
tot und lebendig,
normal und unnormal.
Über die Augen
Kommen die Tränen.
Wird Trauer sichtbar.
Alles fließt,
verändert sich.
Irgendwann hält dich nichts mehr.
Über den Augen
Kommen die Tränen.
Zu ungelebtem Leben.
Verpassten Gelegenheiten.
Verlorener Mut.
Über die Augen. 

36 Da sprachen die Leute: Siehe, wie hat er ihn so liebgehabt!
37 Einige aber unter ihnen sprachen: Er hat dem Blinden die Augen aufgetan; konnte er nicht auch machen, dass dieser nicht sterben musste?
38 Da ergrimmte Jesus abermals und kommt zum Grab. Es war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor.
39 Jesus spricht: Hebt den Stein weg! 

Der Stein
Ein Stein liegt auf meiner Brust.
Blockiert mein Leben und mein Atmen.
Ein Stein blockiert meinen Weg.
Im Innen wie im Außen.
Der Stein:
Blockade, Hindernis, Mauer.
Schlussstein, Baustein, Nierenstein.
Der Stein auf meiner Brust.
Blockiert mein Leben.
Hebt ihn weg!
Den Stein.

39 Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen.
40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?
41 Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
42 Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich's, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.
43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!

Komm heraus!
Komm heraus aus deiner Gruft!
Komm heraus aus deiner Hölle!
Komm heraus aus deiner Versteinerung!
Geh los!
Trau dich!
Vertraue ihm!
Höre auf seine Stimme!
Komm heraus!
Sei nicht länger lebendig begraben.
Sondern lebe!

44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen!

Löst die Binden und lasst ihn gehen!
Hin zu sich selbst.
Hin zu seinem Leben.
Hin zu seiner Liebe.
Hin zu sich selbst.
So wie er ist.
Ohne Binden.
Ohne Fesseln.
Ohne Masken.
Ohne Grab.
Löst die Binden und lasst ihn gehen.
Lasst ihn sein eigenes Leben leben.
Ohne Sünde.
Ohne Hass und Gewalt
Ohne Scham.
Ohne Verunsicherung.
Löst die Binden und lasst ihn gehen!
Lasst mich gehen.
Lasst uns gehen.
Und plötzlich gehst du.
Wackelig.
Ungläubig. Vorsichtig.
Ohne Binden.
Ohne Fesseln.
Lazarus kommt heraus.
Du kommst heraus.
Du erlaubst dir zu gehen.
Heraus aus der Gruft.
Du erlaubst dir zu weinen, zu lachen.
Aufzustehen.
Auferstehen, zu neuem Leben.

Die Textmeditation ist inspiriert von einer Predigt zum Bibeltext von Birgit Mattausch und einer Radioandacht von Sandra Zeitler. Vielen Dank dafür!

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